Alex Cross - Cold
1
Es begann mit den Kindern von Präsident Coyle, Ethan und Zoe, prominente Persönlichkeiten mit einem hohen Bekanntheitsgrad, und das wahrscheinlich nicht erst seit ihrem Umzug nach Washington.
Der zwölfjährige Ethan Coyle war der Meinung, er hätte sich mit dem Leben unter den sezierenden Blicken der Öffentlichkeit arrangiert. Daher nahm er die Kamerateams, die ständig vor den Toren der Branaff School lauerten, kaum mehr wahr. Im Gegensatz zu früher regte er sich auch nicht mehr darüber auf, wenn ihn irgendein Mitschüler, den er nicht einmal kannte, im Flur, in der Turnhalle oder womöglich sogar auf der Toilette fotografierte.
Manchmal tat Ethan einfach so, als sei er unsichtbar. Das war natürlich ziemlich kindisch, schwachsinnig irgendwie, aber wen interessierte das? Der Vorschlag stammte sogar von einem der netteren Typen vom Secret Service. Der hatte Ethan erzählt, dass Chelsea Clinton es früher genauso gemacht hatte. Aber wer konnte schon sagen, ob das wirklich stimmte?
Als Ethan an diesem Morgen Ryan Townsend auf sich zukommen sah, da hätte er sich allerdings am liebsten tatsächlich unsichtbar gemacht.
Ryan Townsend hatte es ständig auf ihn abgesehen, und das lag nicht etwa daran, dass Ethan unter Verfolgungswahn litt. Er konnte jede Menge blauvioletter oder gelblicher Flecken vorweisen, Flecken, wie sie nach einem harten Schlag oder einem gezielten Tritt Zurückbleiben.
»Alles klar, Coyle-Suse ?«, fragte Townsend und steuerte direkt auf ihn zu, mit diesem Gesichtsausdruck, den Ethan nur all zu gut kannte. »Oder hat die Coyle-Suse mal wieder ’nen schlechten Tag erwischt?«
Ethan hatte mittlerweile gelernt, dass er seinem Peiniger auf keinen Fall antworten durfte. Stattdessen bog er scharf nach links ab, in den Gang mit den Bücherschränken. Aber das war sein erster Fehler. Jetzt saß er in der Falle. Schon spürte er einen scharfen, stechenden Schmerz am Oberschenkel. Townsend hatte ihn, ohne seine Schritte wesentlich zu verlangsamen, einfach getreten. »Streifschüsse« nannte er diese kleinen Zwischenfälle.
Was Ethan jetzt nicht machte, war, laut aufzuschreien oder mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden zu gehen. Das hatte er sich geschworen: Er würde sich niemals anmerken lassen, was er fühlte.
Stattdessen ließ er seine Bücher fallen und ging in die Hocke, um sie wieder aufzuheben. Das war feige und hasenfüßig, klar, aber wenigstens konnte er so sein Bein für einen Moment entlasten, ohne dass die ganze Welt erfahren musste, dass Ryan Townsend ihn als Sandsack und Treteimer benutzte.
Nur, dass es dieses Mal noch jemand beobachtet hatte und zwar nicht der Secret Service.
Ethan war gerade damit beschäftigt, das Millimeterpapier in seine Mathemappe zurückzupacken, da hörte er eine vertraute Stimme.
»He, Ryan. Bei dir auch alles klar ?«
Ethan hob den Kopf und bekam gerade noch mit, wie seine vierzehnjährige Schwester Zoe sich vor Townsend aufbaute.
»Das hab ich gesehn«, sagte sie. »Hättste nicht gedacht, was?«
Townsend legte seinen blonden Lockenkopf schräg. »Keine Ahnung, was du meinst. Warum kümmerst du dich nicht um d...«
Plötzlich, wie aus dem Nichts, hatte Zoe ein schweres, gelbes Schulbuch in den Händen. Sie holte aus und hieb es Townsend mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Aus seiner Nase spritzte rotes Blut. Er taumelte nach hinten. Es war großartig!
Aber dann war auch schon Schluss, und der Secret Service schaltete sich ein. Agent Findlay hielt Zoe fest, und Agent Musgrove drängte sich zwischen Ethan und Townsend. Ein ganzer Haufen Sechst-, Siebt- und Achtklässler war schon stehen geblieben und glotzte, als wäre das Ganze eine neue Reality-Sendung im Fernsehen Die Präsidentenkinder.
»Ihr seid solche Loser !«, brüllte Townsend Ethan und Zoe an, während das Blut auf seine Branaff-Krawatte und sein weißes Hemd tropfte. »Zwei bescheuerte Vollidioten. Ohne diese SS-Typen, die euch die ganze Zeit bewachen, hättet ihr ja überhaupt keine Chance!«
»Ach, ja? Erzähl das mal meinem Mathebuch«, schrie Zoe zurück. »Und lass gefälligst meinen Bruder in Ruhe! Du bist größer und älter als er, du Blödmann! Arschloch!«
Ethan kauerte immer noch vor den Schränken, wo sich die Hälfte seiner Schulsachen auf dem Boden verteilt hatte. Und für einen kurzen Moment, für ein, zwei Sekunden vielleicht, tat er so, als sei er einfach nur einer unter vielen, bloß ein namenloser Schuljunge, von dem noch nie jemand gehört hatte, der
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