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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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der Kreativität oder des Selbstausdrucks in jedem von uns gibt, der uns von allen anderen unterscheidet, sehr vertraut.
    Jung stand mit seiner Betonung der Individuation nicht allein. Viele der frühen Entwicklungspsycholo gen, klinischen Psychologen und Psychoanalytiker hielten das Ich für einen Samen, der sich von allein entwickelte, wenn man ein Kind richtig hegte und pflegte, erzog und verstand. 10 Aber wie sich herausstellte, enthielt diese Betonung des Selbst oder Ich einen schwerwiegenden Fehler, der erst in letzter Zeit durch neue Entdeckungen und Theorien der menschlichen Entwicklung korrigiert wurde.
    Am Ende des 20. Jahrhunderts formulierten Psychologen, Philosophen, Linguisten und Soziologen die Theorie des Selbst neu und betonten dessen Interdependenz. Die Fachleute behaupten nun, dass die Primäreinheit der menschlichen Entwicklung die Beziehung - ursprünglich die Zweierbeziehung - und nicht das Individuum ist. 11 Schließlich beginnen wir Menschen als Paar (Mutter und Kind) und sind ein Leben lang auf andere angewiesen, um uns selbst zu erkennen, unsere Begabungen und Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen und unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Die Vorstellung vom genialen Individuum hat dem Gedanken Platz gemacht, dass jedes schöpferische Werk und jede Führerschaft im Rahmen von Beziehungen und einer Gemeinschaft stattfindet. Solange ein Er wachsener unfähig ist, mit anderen zu teilen und zusammenzuarbeiten, zu geben und zu nehmen, wird er
nicht imstande sein, Ambitionen und Begabungen zu artikulieren und aufrechtzuerhalten, ganz zu schweigen von einer Familie und Beziehungen. Diese Beziehungstheorie stellt die Wichtigkeit von individueller Begabung, Einsicht oder harter Arbeit nicht in Abrede, aber sie relativiert sie: Menschen brauchen andere, um etwas Bedeutendes zustande zu bringen. Unsere Leistungen werden immer von emotional intelligenten Beziehungen zu anderen abhängen. Sogar das Ich - die Erfahrung einer eigenen zeitlichen Identität und Geschichte - existiert nur in Beziehung zu anderen. Dieses Ich ist das, was wir aus dem entwickeln, was andere über uns sagen, aus unseren Reaktionen auf das, was andere mit uns machen und uns antun; und was wir in dem sehen, was andere uns zurückspiegeln.
    Was ist im 21. Jahrhundert wichtig am Ich oder Selbst? Erstens brauchen wir all jene Funktionen, die es uns zur Verfügung stellt: das Empfinden, uns in unserem Körper aufzuhalten, die Erkenntnis, dass wir verantwortlich für unsere Worte und Taten sind, unsere zeitliche Geschichte und die Bindungen, die mit diesem Ich einhergehen und es am Leben erhalten. Diese Ichfunktionen unterstützen unsere Autonomie - die Fähigkeit, im Laufe unseres Lebens vernünftige Entscheidungen für uns zu treffen. Aber sie können unterbrochen, dürftig entwickelt oder aus dem Lot geraten und verzerrt sein, besonders infolge der Beziehungen, die wir zu anderen haben, zuallererst zu unseren Eltern und Geschwistern. Daher ist das Zweitwichtigste am Selbst oder Ich, dass es immer auf Beziehungen angewiesen ist. Als Erwachsene ein glückliches Leben mit uns selbst zu führen bedeutet, dass wir über ein verlässliches Gleichgewicht von Geben und Nehmen mit
anderen verfügen, die uns umgeben und uns und unseren Wert unterstützen und nähren.
    Was hat es also mit dem Selbstwert auf sich? Was ist er, und warum schenken wir ihm so viel Beachtung? Die meisten Menschen glauben, dass Selbstwert heißt, sich mit sich selbst gut zu fühlen, doch die folgende Definition aus einem zeitgenössischen Wörterbuch ist treffender: »Eine Haltung der Akzeptanz, Anerkennung und Achtung sich selbst gegenüber, die sich als persönliche Einsicht in die eigenen Fähigkeiten und Leistungen und als Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Grenzen manifestiert.« 12 Selbstwert beinhaltet, dass wir sowohl um unsere Stärken als auch um unsere Schwächen wissen und sie akzeptieren. Wir entdecken unsere Stärken und Schwächen anhand der Wirkungen unserer Handlungen in der Welt (was wir tun und hervorbringen) und anhand dessen, wie andere uns sehen, indem sie uns zurückmelden, welchen Einfluss wir auf sie hatten. Ein gutes Selbstwertgefühl entsteht aus der Bewältigung von Aufgaben und aus Beziehungen; es ist ein Nebenprodukt davon, dass wir einige Dinge gut können, aber auch unsere Grenzen akzeptieren (erkennen, wann wir Hilfe von anderen brauchen) und die guten Folgen unserer eigenen Einflüsse sehen.
    Selbstwert kann uns niemals einfach durch

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