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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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gesellschaftlichen Situationen und der Verwirrung und dem Unglück unserer erwachsenen Kinder? Weil man fürsorglichen Eltern in den letzten zwanzig Jahren eingeredet hat, dass ein gutes Selbstwertgefühl und dauerhaftes Glück darauf beruhen, den Kindern zu vermitteln, dass sie besonders sind.

Selbst und Selbstwert: ein kurzer Abriss
    Um die Gründe dafür zu verstehen, müssen wir am Anfang beginnen, mit dem Selbst oder Ich. Die mensch liche Erfahrung eines Ichs, das sich seiner selbst bewusst ist, ist auf der Welt einzigartig, obwohl Tiere aller Wahrscheinlichkeit nach auch ein rudimentäres Ichgefühl haben. 7 Vielleicht reflektieren Sie meistens nicht groß darüber, was Ihr Selbst ist, doch wenn Sie Vater oder Mutter sind, haben Sie über den Selbstwert Ihres Kindes vermutlich gründlich nachgedacht.
    Das Selbst oder Ich ist unsere Erfahrung, ein Individuum
zu sein, das in der Hauthülle steckt, die wir den Körper nennen. Menschen haben, ungeachtet ihrer Kultur oder Gesellschaft, überall auf der Welt dieses Gefühl, getrennte kleine Einheiten mit einer persönlichen Geschichte und einer einmaligen Identität zu sein. Selbst in Gesellschaften, deren Sprache keine oder nur wenige Personal- und Possessivpronomen (wie »ich«, »mich« und »mein«) kennt, gibt es Wörter, die besagen, dass »die Handlung von hier kommt« oder dass »die Handlung von dort kommt«. 8 Alle Gesellschaften machen Erwachsene in einem bedeutenden Umfang für ihre eigenen Handlungen verantwortlich. In den USA erklärt man junge Menschen mit 21 Jahren für volljährig (in Deutschland mit 18 Jahren). In der Vergangenheit hieß das, dass junge Menschen bereit sein mussten, volle finanzielle, juristische und psychische Verantwortung um die Zeit dieses Geburtstags herum zu übernehmen. Viele Menschen heirateten und gründeten Anfang zwanzig eine eigene Familie.
    Das Wort »Selbst« oder »Ich« bezieht sich auf unser inneres Erleben - unsere persönliche Identität, unser Gefühl, in einem Körper zu stecken, unsere Fähigkeit, selbständig zu handeln, und auf unsere persönliche Geschichte. Wir verwenden das Wort »Person«, um das zu bezeichnen, was wir von außen sehen: das handfeste, dreidimensionale Objekt, das sich als Mensch bewegt und handelt. Meiner Ansicht nach ist das Ich eine Funktion der Person, vergleichbar mit dem Herzschlag oder dem Blutkreislauf. Die Ichfunktion ist etwas Aktives und ließe sich besser durch ein Verb als ein Substantiv ausdrücken. Sie durch ein Substantiv auszudrücken lässt uns irrtümlich glauben, sie sei ein Ding; deshalb identifizieren wir das Ich oft mit dem
Körper, der das Handfesteste an uns ist. Doch bei nur ein klein wenig Nachdenken wird uns klar, dass das Ich eine Funktion ist, die wir brauchen, um eine Person zu sein, aber dass es nicht identisch damit ist, eine Person zu sein.
    Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gipfelten viele wichtige europäische und amerikanische Ideale in dem Glauben, im Individuum liege eine enorme Verheißung und Macht. Die Idee des individuellen Genies - am häufigsten an Einstein, Darwin und Freud illustriert - wurde sehr zentral für das neue Gebiet der Psychologie, das noch in den Kinderschuhen steckte und sich hauptsäch lich aus der Philosophie entwickelt hatte. Der Psychoanalytiker C.G. Jung, der zusammen mit Sigmund Freud die Psychoanalyse begründete, interessierte sich ganz besonders für das Selbst - insbesondere für seine individuelle Schöpferkraft und Einzigartigkeit. Wie er glaubte, drückt sich das Beste unseres Menschseins durch unsere Individualität aus. 9 Er glaubte auch, dass unsere Individualität ihren ganz eigenen Abdruck oder Stempel besitzt, der von Anbeginn an da ist. So wie eine Eichel sich zu einer Eiche und nicht zu einem Ahorn entwickelt, hatte Jung zufolge auch jedes Selbst seine ihm eigene Form, Bedeutung und Bestimmung. Die allmähliche Entfaltung dieser Bestimmung nannte er »Individuation«. Die Individuation konnte durch frühe Familienprobleme, Traumata oder Missbrauch verzögert oder unterbrochen werden, doch sie galt als etwas, was eine eigene natürliche Kraft und Organisation besaß. Wenn die Entfaltung oder Kraft der Individuation durch emotionale oder andere Störungen behindert worden war, konnte man das Hindernis durch eine wirksame Psychotherapie beseitigen und den Prozess,
ein einzigartiges Individuum zu werden, wieder in Gang setzen. Als Jung’scher Analytikerin ist mir diese Theorie, wonach es einen angeborenen Entwurf

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