Wenn Eltern es zu gut meinen
beschließen, ihre Kinder mit menschlichem Elend in Kontakt zu bringen, manchmal aus spirituellen Gründen und manchmal aufgrund von Lebensumständen. Der Arzt Dr. David Hilfiker und seine Frau, die Pädagogin Marja Hilfiker, trafen in der Mitte des Lebens die Entscheidung, unter Obdachlosen zu leben und sich ihrer anzunehmen. 1983 zogen sie von einer sicheren Mittelschichtexistenz auf dem Land in Minnesota in das Adams-Morgan-Viertel von Washington, D.C., mit samt ihren drei Kindern: Laurel, zwölf, Karin, fast neun, und Kai, vier. Sie schlossen sich der Church of the Savior an, einer kleinen christlichen Gemeinschaft, die sich um Arme kümmert, Gottesdienste in kleinen Gruppen (zwischen zehn und dreißig Teilnehmern) abhält, von ihren Mitgliedern mindestens zehn Prozent ihres Jahreseinkommens als Spende verlangt und eine tägliche Kontemplations- und Meditationspraxis empfiehlt. Dr. Hilfiker hat bewegend über seine Erfahrungen
mit einer »Medizin der Armen« und seine spirituelle Entwicklung geschrieben, die daraus resultierte, dass er unter den Armen und Obdachlosen gelebt und mit ihnen gearbeitet hat. 10
Ich hörte das erste Mal von David Hilfiker im National Public Radio, als er in einer Sendung interviewt wurde, die Speaking of Faith (»Gespräche über den Glauben«) heißt. 11 Nach der Flutkatastrophe in New Orleans konzentrierte sich die Sendung auf die Armen in der Stadt und die spirituellen Fragen, die sie für uns alle aufwerfen. Dr. Hilfiker sprach so offen und verständig von seiner Arbeit im Christ House, einer medizinischen Übergangseinrichtung, wo er als Arzt für Obdachlose arbeitete, und im Joseph House, einem Heim für Obdachlose mit Aids, dessen medizinischer Direktor er war, dass ich völlig gebannt war. Ebenso faszinie rend waren die Erfahrungen, die er und seine Frau damit machten, ihre drei Kinder in den beiden Häusern großzuziehen. Im Christ House hatte die Familie eine separate Unterkunft, in der die Kinder von den Bewohnern getrennt gehalten werden konnten, aber im Joseph House teilten die Kinder die wichtigsten Lebensbe reiche mit den Bewohnern.
Ich kontaktierte Dr. Hilfiker und sprach mit ihm und seiner Frau in ihrer jetzigen Wohnung in Washington und interviewte per E-Mail auch ihre mittlere Tochter Karin, die über ihre Jugend unter den Armen und Kranken geschrieben hat. Als Karin 14 war und sie ins Joseph House zogen, stellte sie sich Fragen wie: Würde ihre beste Freundin sie noch besuchen kommen? Würde ihr Freund sich dort wohl fühlen? Würde sie sich je mit einem der Männer dort anfreunden? Aber schon bald stand Karin mit ihren neuen Gefährten auf
freundschaftlichem Fuß. »Es dauerte nicht allzu lange, bis wir ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ent wickelten. Ein oder zwei Wochen nach unserem Einzug kamen alle Männer zusammen mit meiner Familie zu einer Ballettvorführung, in der ich tanzte.« Sie lebte in einem Haus, in dem, wie sie mit 17 schrieb, »der Tod oft zu Besuch kommt«, einem Ort, an dem es zwar nicht möglich war, »jeden Augenblick glücklich zu sein, aber jeden Augenblick zu spüren, und das ist es«, so schrieb sie, »was es heißt, ganz und gar lebendig zu sein.« Karin gewann ein großes Maß an Empathie, Mitgefühl und Einsicht aus ihrem Leben im Joseph House. Als sie wegging, um am Macalester College in Minnesota zu studieren, schrieb sie:
Wie kann ich fröhlich sein, wenn ich inmitten von so viel Leiden und Tod lebe? Weil ich gelernt habe, dass Leiden sehr viel besser ist als Gleichgültigkeit. Man trauert, wenn man Freude empfunden hat. Wenn man jemandes Tod betrauert, dann, weil man jeman den geliebt hat. Wenn man den Verlust der Gesundheit betrauert, dann, weil man gesund gewesen ist. Immer wenn man trauert, hat man eine Zeitlang etwas Kostbares gehabt, und das ist etwas, was es wert ist, es zu feiern. 12
Karin ist mittlerweile Anfang 30, und als ich sie interviewte, wollte ich wissen, wie sie es empfunden hatte, mit dem religiösen Engagement ihrer Eltern aufzuwachsen. Sie antwortete, dass »eines der größten Geschenke des Lebens in Christ House und Joseph House darin bestand, dass ich es sowohl bei den Mitarbeitern als auch den Bewohnern mit Menschen zu tun hatte,
die aus anderen Rassen, Kulturen und Schichten kamen als ich. Ich war gezwungen, mich mit Menschen auseinanderzusetzen, die dreimal so alt waren wie ich und kaum lesen konnten, mit Drogen dealten, Leute ausraubten, um zu leben, oder ihre unmittelbare Umgebung noch nie verlassen
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