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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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erlebt. Das geläufige und grundlegende Aus-der-Bahn-geworfen-Werden von duhkha kann von normalen körperlichen Schmerzen und psychischen Schwierigkeiten bis hin zu der Frustration reichen, die wir empfinden, wenn Dinge und Menschen nicht unseren Idealen entsprechen, dem schrecklichen Kummer oder der Todesangst im Zusammenhang mit Missbrauch oder Tragödien und der existenziellen Angst, die bei dem Gedanken aufkommt, dass wir mit dem Tod alles verlieren. Alle diese Formen von duhkha sind Bestandteil der menschlichen Existenz. 6 Jeder leidet darunter; niemand ist davon verschont.
    Wenn Eltern ihre Kinder immer wieder vor den vorhersehbaren Wechselfällen des Lebens schützen und wollen, dass sie stets glücklich sind, werden Kinder das Auftauchen normaler Schwierigkeiten für etwas Außergewöhnliches halten. Hat ein kleines Kind niemals Misserfolge gehabt, nicht einmal beim Spielen oder Wetteifern mit Freunden, erlebt es den Fehlwurf bei seinem ersten Baseballspiel in der Kindermannschaft als Selbstwertfalle und Katastrophe. Wenn man uns beibringt zu glauben, wir sollten meistens glücklich sein und vom Leben das erhalten, was wir uns wünschen, werden wir uns selbst oder jemand anderem die Schuld geben, sobald das nicht geschieht, obwohl es vermutlich einfach nur die Art und Weise ist, wie das Leben spielt. Kein noch so großes Maß an materiellem Besitz oder Erfolg kann uns vor den in der Realität angelegten Begrenzungen bewahren: dass wir
krank werden und sterben, dass Dinge sich wandeln und dass wir sehr wenig Kontrolle darüber haben, wie Menschen uns wahrnehmen und was mit uns geschieht. Viele junge Erwachsene landen in der Selbstwertfalle, wenn sie den Schutz des Elternhauses verlassen, weil sie kein Vertrauen zu ihrem eigenen Problemlösungsvermögen oder ihrer Fähigkeit haben, aus Schwierigkeiten zu lernen und sie zu meistern.
    Erik Thompson hat junge Menschen untersucht, die dabei sind, am Ende der Pubertät das Elternhaus zu verlassen, oder eine andere Art sozialer Trennung durchmachen. Wir sind beide einhellig der Meinung, dass Autonomie - die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen - etwas ist, was von frühester Kindheit an bis zur Emanzipation (dem Verlassen des Elternhauses, um auf eigenen Beinen zu stehen) eingeübt werden muss, damit ein junger Mensch zuversichtlich von zu Hause weggehen kann. Ein kleines Kind braucht selbstverständlich den größten Schutz, das heranwachsende Kind sollte hingegen immer häufiger Entscheidungen treffen - auf sich selbst und sein Äußeres achten und mit Geld, Hausarbeiten, Noten und CollegeBewerbungen umgehen -, um sich darauf vorzubereiten, von zu Hause auszuziehen.
    Thompsons Forschung kreist um das Thema des selbstverletzenden Verhaltens, das bei Kindern inzwischen epidemische Ausmaße angenommen hat. Er definiert Selbstverletzungen als Sichschneiden, Selbstverstümmelung und parasuizidales Verhalten, bei dem jemand häufig über Selbstmord nachdenkt oder spricht und eine nichttödliche Überdosis einnimmt. »Es ist ziemlich weit verbreitet. Mir begegnet es überall«, sagt Thompson. 7

    Wie er annimmt, sind diese Verhaltensweisen ein unbewusster Ausdruck des Protests gegen die Trennung, ein ungesundes Zeichen dafür, dass diese jungen Menschen sich emotional unvorbereitet fühlen, auf eigenen Beinen zu stehen, weil, so seine These, ihre Eltern ihnen immer wieder die Steine aus dem Weg ge räumt haben. »Es ist wie der Wutanfall eines Kleinkinds. Jane Goodall beschreibt etwas Ähnliches bei Schimpansen in freier Wildbahn. Wenn eine Mutter nicht stark genug ist, die Angriffe auszuhalten, die ein junger Schimpanse als Protest gegen das Entwöhntwerden gegen sich selbst richtet, und ihm wieder die Brust gibt, schwächt sie ihn, sodass er vielleicht nie imstande ist, sich unter Gleichaltrigen zu behaupten. 8 Bei vielen meiner ersten Interviews mit Familien gab es einen Elternteil, oft den Vater, der zu viel Aufhebens von den Hausaufgaben des Kindes machte.« Er erinnerte sich an einen Vater, der schamerfüllt gestand, dass er für seine Tochter die Hausaufgaben in der Highschool gemacht hatte, weil er ihr Misserfolge ersparen wollte. Sie war tatsächlich eine sehr gute Schülerin. Der Vater hatte begonnen, die Hausaufgaben für die Tochter zu erledigen, als sie in die Oberstufe kam. Als sie 19 war und auszog, um aufs College zu gehen, fing sie an, sich zu schneiden, eine Überdosis Medikamente zu nehmen und schließlich mit Selbstmord zu drohen. Wie

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