Wenn Eltern es zu gut meinen
Berühmtheit und Macht den Schlüssel zur Autonomie bilden, und sie erwarten von ihren Eltern, sie beim Erreichen dieser Ziele zu unterstützen. Bedauerlicherweise haben genau diese Ziele sie für die Selbstwertfalle anfällig gemacht, die positive Selbstgefühle sehr schnell in Versagensangst umschlagen lässt.
Als mein Mann und ich neulich in eine lokale Aufführung von Thornton Wilders Stück Unsere kleine Stadt gingen, erschreckte mich, wie anders ich auf die Szenen reagierte, in denen es um die Erziehung der heranwachsenden Kinder geht. Das Publikum soll das Gefühl haben, eine durchschnittliche amerikanische Familie vor sich zu sehen, und sich mit den Eltern und Kindern identifizieren. Ich habe dieses Stück, das 1938 uraufgeführt wurde, zuletzt vor etwa zwanzig Jahren gesehen. Bei früheren Aufführungen - in der Highschool, am College und als meine Kinder klein waren - empfand ich die Rolle der Eltern ohne Weiteres als natürlich und echt. Diesmal fühlte ich jedoch einen Bruch und dachte: »Niemand diszipliniert seine Kinder
so und erwartet diesen Grad an Gehorsam.« Das Stück löste eine tiefsitzende Erinnerung daran aus, dass Eltern vor noch nicht allzu langer Zeit von ihren Kindern sehr viel mehr verlangten und viel weniger nachsichtig im Hinblick auf häusliche Pflichten und Aufgaben waren.
Das Problem von Kindern, die mit der heutigen »Ich bin okay, du bist okay«-Erziehung aufgewachsen und von Anspruchsdenken geprägt sind, besteht darin, dass sie viele Komplimente brauchen und unverdiente Privilegien erwarten. 4 Es ist ihnen oft unklar, worin ihre Pflichten gegenüber Familie und Gemeinschaft be stehen. Und wenn sie nie einen Misserfolg hatten oder ihnen nie nahegelegt wurde, sich über das, was sie taten, klar zu werden, könnte es ihnen unerträglich scheinen, eine Abfuhr zu erleben - sei es von einem College, einem Job oder einem Liebhaber. Da sie das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, nicht erleben mussten, wissen sie nicht, wie man damit konstruktiv umgeht. Sie haben ein Idealbild von anderen und sich selbst.
»Wir von der Generation X/Y, wie ich uns gern tituliere«, bemerkt der 31-jährige Kyle aus Seattle, »halten uns für progressiv und zukunftsorientiert im Denken, aber unser vorherrschendes Thema ist die Überzeugung, idealisierten Maßstäben entsprechen zu müssen. Wenn wir nicht den Eindruck haben, dass wir im Leben brillante Leistungen bringen, haben wir das Gefühl zu versagen.« Das ist einer der Gründe dafür, dass die fähigen jungen Menschen von heute, die auf das Erwachsenendasein gut vorbereitet zu sein scheinen, sich oft davor scheuen, früh Geld zu verdienen, sich an einen Partner zu binden und eine Familie zu gründen.
Das Gefühl, einem Idealbild entsprechen zu müssen, rührt, wie deutlich wurde, teilweise von den Bemühungen der Eltern und anderer Erwachsener her, Kindern die Erfahrung ihrer eigenen Misserfolge und Fehler zu ersparen. Wenn wir unsere Kinder über Gebühr loben und ihnen die Steine aus dem Weg räumen, schwächen wir ihre Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen, sobald sie von zu Hause ausziehen. Gefangen in der Selbstwertfalle, haben junge Erwachsene zwei widersprüchliche Identitäten: Sie fühlen sich besonders und sind gleichzeitig unvollkommen. Einerseits glauben sie, sie sollten anderen überlegen sein oder seien es sogar, andererseits können sie nicht die leiseste Kritik oder den leisesten Misserfolg vertragen, ohne sich blamiert oder frustriert zu fühlen. Sie fürchten, nicht das zu besitzen, was man braucht, um im Leben zu bestehen.
Ichgefühle und Versagensangst
Der 32-jährige Andrew begann eine Psychotherapie, als er 28 war. 5 Hinter seiner Geschichte steckt dasselbe Muster wie bei Adrienne und Erin. Groß, blond und sportlich, hatte Andrew die Art von fabelhaftem Aussehen, die ein gewisses Selbstbewusstsein zu verhei ßen schien, das er jedoch nicht besaß. In seiner Kleidung, meistens schwarz und lässig, drückte sich ein künstlerischer Zug aus, der überraschend gut zu seinem sportlichen Körper passte; er hatte auf der Highschool mit großem Eifer Tennisturniere bestritten. Dennoch vertat dieser selbstsicher wirkende junge Mann nach seinem Abschluss an einem Elite-College sechs
Jahre in einer Reihe von belanglosen Jobs und war in der Beziehung zu Frauen oft von Unsicherheit geplagt. Andrew, der seit sechs Jahren Prozac einnahm - und sich sträubte, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, es abzusetzen, weil er
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