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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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sich nur mit seiner Hilfe funktionsfähig fühlte -, war unsicher und schwach, was ihn selbst betraf. Was ich von Andrew weiß, stammt hauptsächlich aus den Aufzeichnungen seines Therapeuten, ergänzt von einem Aufsatz, den Andrew selber schrieb.
    Solange Andrew denken konnte, hatte sein Vater ihm gepredigt, wie wichtig es sei, eine Arbeit zu haben, die ihn wirklich interessierte; alles andere sei »Mord an der Seele«. An oberster Stelle auf Andrews Priori tätenliste stand die Kunst. Er hatte als junger Erwachsener nacheinander Malerei, Film, Möbeldesign und Baukunst studiert. Doch bei allem, was er probierte, gelangte er zu der Überzeugung, dass er nichts so Außergewöhnliches zustande bringen konnte, dass es sich lohnte, dabeizubleiben. Offenbar hatte er nie von der Zehn-Jahres-Regel von Peterson und Seligman gehört, wonach niemand einen wirklich kreativen Beitrag auf einem Gebiet leisten kann, ohne zuerst volle zehn Jahre auf die Beherrschung der nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten zu verwenden. Andrew hatte den Eindruck zu versagen, wenn er bei einem neuen Projekt nicht schon nach ein paar Monaten oder sogar Wochen etwas Spektakuläres zustande brachte.
    Andrew gleicht vielen der Studenten im kreativen Schreiben, die von Professor Gigi Marks am Ithaca College unterrichtet werden. »So viele meiner Studenten sind der Ansicht, dass ihr Leben sinnlos und leer ist, wenn sie nicht schnell erfolgreich sind und mit
Ende 20 mindestens ein Buch veröffentlicht haben. Meiner Meinung nach muss es sehr beängstigend sein, so zu empfinden. Ich sage ihnen, dass sie, um Schriftsteller zu werden, am Ball bleiben und abwarten müssen. Dass sie ein ausgefülltes Leben führen und auf das Schreiben immer wieder zurückkommen müssen. Sie hören nicht auf mich. Stattdessen halten sie sich in sehr jungen Jahren für professionelle Schriftsteller, nicht für Schriftsteller, die noch in die Lehre gehen. Sie scheinen zu glauben, dass es wichtiger ist, außergewöhnlich zu sein, als etwas zu lernen.«
    Unlängst zeigte eine Umfrage, dass erstaunliche 98 Prozent von College-Erstsemestern der Aussage zustimmten: »Ich bin sicher, dass ich eines Tages das erreichen werde, was ich im Leben erreichen will.« 6 Diese Überzeugung hat zu wahnhaftem Ehrgeiz bei jungen Leuten geführt, die regelmäßig vorhersagen, dass sie berühmt, außergewöhnlich kreativ, gut gebildet sein oder viel Geld verdienen werden. Das Gefühl, Großes erreichen zu müssen, führt zu einem hohen Niveau an Angst und Depression. Die Psychologin Jean Twenge berichtet in ihrem Buch Generation Me , dass »nur 1 bis 2 Prozent der Amerikaner, die vor 1915 geboren wurden, eine größere depressive Phase in ihrem Leben durchmachten, obwohl sie die Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege erlebten. Heutzutage ist die Quote von schwerer Depression im Laufe eines Lebens um das Zehnfache gestiegen - und liegt zwischen 15 und 20 Prozent. Einige Studien sprechen von nahezu 50 Prozent.« 7 Im Jahr 2002 nahmen bereits 8,5 Prozent der Amerikaner ein Antidepressivum. 8 Twenge fand auch heraus, dass der Anstieg von Angst in den 1990er-Jahren so stark war, dass durchschnittliche College-Studenten
ängstlicher waren als 85 Prozent der Studenten in den 1950er-Jahren und 71 Prozent der Studenten in den 1970ern. 9
    Das Gefühl, schnell etwas leisten zu müssen, war kennzeichnend für Andrew. Er kam in die Therapie, weil er sich in einem Magisterstudiengang in Architektur eingeschrieben hatte und von der Angst gequält wurde, dass er damit seine wahre Berufung als Maler opferte. Er hoffte, dass die Therapie ihm helfen würde, entweder bei der Architektur zu bleiben oder sich klar zumachen, dass er sein »wahres Selbst«, den Maler, verriet. Auf jeden Fall erkannte er, dass sein Wunsch, das Architekturstudium an den Nagel zu hängen, nachdem er sich gerade immatrikuliert hatte, vermutlich ein persönliches Problem war und nicht primär etwas, was mit dem Studium zu tun hatte.
    Das andere Problem, das Andrew beschäftigte, war die Beziehung zu einer jungen Frau, die er an seinem Elite-College kennengelernt hatte. Cathy, die ihre eigenen idealistischen Visionen von der Zukunft hatte, entschied, dass sie nach Paris gehen müsse. Andrew, der nach dem College ein paar Jahre mit ihr zusammengelebt hatte, willigte ein, mitzugehen, obwohl er wusste, dass er dort keine Aussicht auf eine Arbeit hatte. Als sich die Dinge nicht nach Cathys Vorstellungen ent wickelten, verließ sie nicht mehr das

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