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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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und einzuschätzen, ob sie sich lohnte. Unter dem Einfluss von negativer Selbsteinschätzung, Scham und unrealistischen Zielen war er nicht in der Lage, eigenständig zu handeln. Wie wiederholt deutlich wurde, können Anspruchsdenken, übermäßiges Lob und Überbehütung einen Jugendlichen daran hindern, die Fähigkeit zu entwickeln, sich selbst von außen zu betrachten. Ich nenne diesen Blick von außen den »Blick vom Balkon«, wie einer meiner Klienten ihn taufte.

Der Blick vom Balkon
    Diese größere, selbstreflektierende Sicht ist das, was Freud und andere das Über-Ich genannt haben. 12 Ein
realistischer Blick vom Balkon und ein gut ausgebildetes Gewissen begünstigen die innere Stimme, die uns erlaubt, unseren eigenen Weg zu gehen, unsere Stärken und Schwächen zu kennen und konstruktiv auf die Kritik anderer zu reagieren. Es ist die Stimme des Gewissens, der Intuition, der Weisheit und Selbsterkenntnis. Wer lernen will, sie zu hören und sich auf sie einzustimmen, braucht kontinuierliche Übung. Abgeschnitten von dieser Stimme, sind junge Erwachsene anfällig für Scham und Versagensängste, wo sie etwas anderes empfinden sollten - wenigstens Neugier auf all das, was geschieht. Wie Andrew notiert: »Meine eigenen Fähigkeiten, meine Arbeit zu beurteilen, waren mangelhaft. Aber als ich ins letzte Semester kam, war ich durch meine Therapie schließlich in der Lage, meine eigenen Entwürfe als so professionell einzustufen, dass ich sie effektiv ausführen konnte.« 13
    Im Nachhinein fragt sich Andrew, was aus ihm geworden wäre, wenn er nicht eine intensive Psycho therapie (dreimal in der Woche) gemacht hätte, die ihm half, eine neue Autonomie zu erreichen. Er sagt:
    Hätte ich mein Magisterstudium aufgegeben? Wäre ich in dieselbe Beziehung zurückgegangen, die mir den Selbstwert, ein gesundes Sexualleben und jeden Antrieb geraubt hatte, mir ein produktives und glückliches Leben aufzubauen? Würde ich zu Hause leben? Würde ich Prozac schlucken in der Hoffnung, dass es das ganze Unglück in meinem Leben auflöste, das mit Liebe, Arbeit und Geld zusammenhing? 14
    Bei den Fragen, die Andrew sich stellt, geht es darum, wie wir uns selbst im Hinblick auf die Welt und andere
sehen - auf welche Weise wir die Hoffnung nähren, erfolgreich zu sein und etwas Lohnendes zustande zu bringen, selbst wenn wir von den Umständen frustriert oder von anderen kritisiert werden. Die verlässliche Fähigkeit zu entwickeln, eigenständig zu handeln und sich von außen zu sehen, ist für Menschen ein langwieriger und komplexer Prozess.
    Die Abhängigkeit in der Kindheit ist bei Menschen viel ausgeprägter und ambivalenter als bei jedem anderen Tier auf Erden. Menschenkinder sind die einzigen Geschöpfe, von denen auf lange Sicht verlangt wird, viele Entwicklungsphasen mit sehr gegensätzlichen Zielen zu durchlaufen. Menschliche Eltern haben bei der Vorbereitung ihres Nachwuchses auf die Autonomie eine noch schwierigere Aufgabe zu bewältigen als die Pinguineltern in dem Dokumentarfilm Die Reise der Pinguine , die ihre Eier bei eisigen Temperaturen vorsichtig zwischen den Füßen halten.

Das prekäre Wesen der Identität
    Das menschliche Gehirn hat viele Fähigkeiten, die sich nur im Rahmen anhaltender menschlicher Beziehungen entfalten können. 15 Diese Fähigkeiten stehen zunächst völlig unter dem Einfluss der Unterstützung und Lenkung der Eltern und können sehr leicht davon verzerrt werden. Die verschiedenen Entwicklungsstadien einer menschlichen Kindheit sollten in Autonomie gipfeln, der Fähigkeit, in Worten und Taten eigenverantwortlich zu sein.
    Wir entwickeln unsere Autonomie auf der Grundlage unserer Identität - der Art und Weise, wie wir uns
selbst sehen. Anhand dieser Grundlage wägen wir unsere Pflichten gegenüber anderen und unsere Verbindung zu ihnen ab. Unsere Identität wird hauptsächlich von zweierlei gestaltet: welche Vorstellung sich die für uns wichtigen Menschen von uns machen (und wie sie diese Ansicht implizit und explizit mitteilen) und was wir unmittelbar aus den Folgen unserer Handlungen in unseren Beziehungen und Projekten lernen.
    Die für uns wichtigen Menschen beginnen schon vor unserer Geburt, unsere Identität zu erschaffen. Sie sprechen über uns, schmieden Pläne und machen sich Vorstellungen von uns, bevor wir auf die Welt kommen. Oft erhalten wir unseren Namen (der uns mit einem Bedeutungshintergrund verbindet) und werden von den Träumen unserer Eltern geformt, bevor wir den

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