Wenn Eltern es zu gut meinen
Verbindung mit Freundlichkeit und Respekt für andere kultiviert, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass das reifende Gewissen das Kind lenken kann, wenn sich in der Spätpubertät die mächtigen Kräfte der Ich-Bewusst heit regen.
KAPITEL 5
Autonomie und emotionale Reife
Unlängst malte sich meine Freundin Shannon, Mutter einer achtjährigen Tochter, die beängstigenden Jahre der Pubertät aus, unter denen Eltern oft leiden. Shannon hat Glück, denn sie hat viele Freunde mit Kindern unterschiedlichen Alters, darunter auch einige, deren Kinder schon fast erwachsen sind. Sie haben alle etwas zu erzählen, wenn man sie auf die Ängste der Pubertät anspricht. Insbesondere eine Frau machte eine Bemerkung im Zusammenhang damit, dass sie ihren Sohn aufs College schicken wollte, die wie ein Weckruf für Shannon war: »Ich habe ihn nicht großgezogen, um ihn bei mir zu behalten.« In diesem Augenblick wurde Shannon schlagartig bewusst, dass sie ihre achtjährige Tochter großzog, damit sie irgendwann aus dem Haus gehen würde.
Ich dachte sofort an einige meiner Klienten und Freunde, deren Kinder nach dem College-Abschluss wieder zu Hause eingezogen sind. 1 Auch diese Eltern glaubten, sie würden ihre Kinder großziehen, damit sie irgendwann aus dem Haus gehen würden, aber die Din ge haben sich nicht ganz so entwickelt. Was kann man tun, um die Reife von Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu stärken, wenn sie in zerbrechlichen Gefühlen der eigenen Wichtigkeit gefangen und moralisch oder emotional unreif sind? Und was bereitet Kinder überhaupt darauf vor, auf eigenen Füßen zu stehen?
Sie werden sich erinnern, dass ich im ersten Kapitel auf die entscheidende Bedeutung der Autonomie für unsere emotionale Reife als Erwachsene hingewiesen habe: Autonomie ist, bildlich gesprochen, die Muskulatur, die uns erlaubt, auf eigenen Füßen zu stehen im Wissen um unsere Stärken und Schwächen. Autonomie, deren Entfaltung in der Kindheit beginnt und sich durch unser Leben hindurch fortsetzt, ist unsere Fähigkeit, selbstbestimmt und eigenständig zu sein. Unsere individuelle Freiheit, Entscheidungen zu treffen und sie umzusetzen, ist eine der Freuden des menschlichen Lebens. Tiere sind stärker instinktgesteuert, wir Menschen jedoch haben die einzigartige Fähigkeit, von unseren unmittelbaren Erfahrungen zurückzutreten und eine größere Sicht einzunehmen, um eine Entscheidung zu treffen, die ein Ausdruck unserer Instinkte, Impulse und Triebe sein kann oder nicht. Wir haben gesehen, dass Schwierigkeiten, ein gut funktionierendes Gewissen und innere Stärken einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass wir diese Freiheit weise gebrauchen. Denken Sie daran: Ein robustes Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und innere Stabilität gründen darauf, früh und wiederholt zu lernen, dass unser Glück davon abhängt, imstande zu sein, die Verantwortung für uns und unsere Verpflichtungen zu übernehmen.
Shannon ist noch mitten dabei, ihre kleine Tochter großzuziehen und muss viele Entscheidungen für sie treffen: »Ich muss dafür sorgen, dass ihre Kleider zusammenpassen, mich mit ihr einigen, wie viel sie vom Abendbrot isst, bevor sie den Nachtisch essen darf, Spielzeug vom Boden aufheben, darauf achten, dass sie ihre Zähne putzt. Derartig viel untersteht meiner Kontrolle: von den Freunden, die sie hat, über die Kleidung,
die sie trägt, bis hin zu der Uhrzeit, zu der sie schlafen geht. Mir wurde klar, dass ich nun anfangen muss, meiner Tochter beizubringen, selbst Entscheidungen zu treffen.« Was Shannon aufging, war, dass Kinder schon mit acht Jahren beginnen sollten, ihre Autonomiemuskulatur zu trainieren. Shannons Tochter sollte bereits einige Entscheidungen selbst treffen - auswählen, was sie anzieht, und eine gewisse Freiheit haben, sich Freunde auszusuchen - und, was äußerst wichtig ist, mit den Folgen ihrer eigenen Entscheidungen konfrontiert werden.
Autonomie in Vergangenheit und Gegenwart
Uns selbst effektiv zu steuern bedeutet, dass wir imstande sind, es mit allem aufzunehmen, was das Leben uns bringt, dem Schlechten wie dem Guten, und darauf mit Worten und Taten zu reagieren. Das heißt nicht, dass wir von anderen und ihren Einflüssen unabhängig sind, sondern vielmehr, dass wir wissen, wann und wie wir unsere Verantwortung und Bedürfnisse geltend machen. Obwohl wir unsere Autonomie im Laufe unse res Erwachsenendaseins weiter ausbauen und verfeinern, werden ihre Grundlagen in der Pubertät gelegt,
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