Wenn Eltern es zu gut meinen
Generation, die vor 1915 geboren wurde. Möglicherweise waren die Härte und Einfachheit des amerikanischen Lebens damals dazu angetan, Menschen ein Gespür für das Geheimnis des Lebens zu geben. Von den Schwierigkeiten des Lebens gezwungen, eine größere innere Ausgeglichenheit zu finden, hatte die frühere Generation vielleicht mehr Zugang zu der ihr innewohnenden Weisheit.
Ich bin zwar keine Verfechterin schwieriger Lebensumstände, aber ich bin der Ansicht, dass Schwierigkeiten, Einfachheit und das Geheimnis Themen sind, die eine wichtige Rolle für die Achtung vor dem Leben spielen und möglicherweise antidepressive Wirkungen haben. Eine schlichte Lebensweise auf einer Campingreise oder Wanderung oder die Übung, in einer langen Schlange oder im Stau vollkommen still zu bleiben und das eigene Kind (und auch sich selbst) aufzufordern, zu beobachten, was sich in den eigenen Gedanken abspielt - das sind die täglichen Gelegenheiten, um sich auf die natürliche Weisheit einzustimmen, die bei kleinen Kindern oft unmittelbar unter der Ober fläche liegt. Aber vielleicht finden Menschen jeden Alters den direktesten Zugang zur Achtung vor dem Leben und seinem Geheimnis durch Krankheit und Tod.
Die Achtung vor dem Leben und dem Tod
Angesichts von Verlust, Krankheit, Verfall und Tod tauchen spirituelle Fragen und Bestrebungen ganz von selbst auf. Meines Wissens werden amerikanische Kinder
vor der Realität dieser Aspekte der Existenz stärker geschützt als Kinder in jeder anderen Gesellschaft. Die meisten Erwachsenen, die heutzutage zu mir in die Psychotherapie kommen, waren noch nie beim Tod eines Menschen zugegen; ich weiß es, weil ich sie danach frage. Das ist eine schreckliche Vergeudung von Chancen für die spirituelle Entwicklung. Wenn Sie einen anderen Menschen noch nie haben sterben sehen, wird Ihnen Ihr eigener Tod so fremd vorkommen, als würden Sie auf einem anderen Planeten leben. Besonders wenn Sie einen Menschen durch die Stadien des langsamen Sterbens begleiten, werden Sie Erkenntnisse, Vertrauen und vielleicht sogar Weisheit für Ihren eigenen Tod daraus schöpfen.
Wie mir viele Pädagogen in meinen Gesprächen gesagt haben, werden amerikanische Kinder und Jugendliche auf Videofilmen, im Fernsehen und im Kino mit Toten und Morden bombardiert. Diese weichgespülten oder dramatisierten Tode gaukeln jungen Menschen vielleicht vor, etwas über den Tod und das Sterben zu wissen, aber sie wissen nichts - solange sie sich nicht in Gegenwart eines Menschen aus Fleisch und Blut aufgehalten haben, der im Sterben liegt. Der »virtuelle Tod« liefert uns eine Ersatzerfahrung: Wir glauben zu wissen, aber wir wissen nicht. In der Gegenwart eines Sterbenden oder Toten kommen wir ganz von selbst in Berührung mit einem tiefen religiösen Sehnen, das Menschen zu allen Zeiten hatten.
In anderen Gesellschaften (und früher auch in unserer) ist es üblich, dass Kinder Krankheit, Sterben und Tod miterleben, bevor sie erwachsen sind. Menschen jeden Alters sterben zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung, und manchmal wird ihr Körper lange aufgebahrt.
Meine Tochter arbeitete als Freiwillige beim Friedenscorps in Thailand in einem abgelegenen Dschungeldorf. Sie lernte eine Familie kennen, die den Leichnam der Großmutter noch ein Jahr nach deren Tod im Wohnzimmer aufbewahrte! Sie hatten die Körperflüssigkeiten entfernt und den Leichnam so präpariert, dass er nicht roch. Die Großmutter lag in einer einfachen Holzkiste, damit alle Familienmitglieder sie noch einmal sehen konnten, bevor sie eingeäschert wurde. Einige kamen von weither angereist, um ihr die letzte Ehre zu erweisen. Für die Familienmitglieder und die Dorfbewohner war die tote Großmutter im Wohnzimmer eine normale, alltägliche Angelegenheit. Die Kinder spielten direkt neben ihrem Sarg, und andere Familienmitglieder aßen und tranken in ihrer Nähe, während sie alte Erinnerungen an sie austauschten.
Ein solcher Anblick macht Menschen, und insbe sondere Kinder, offen für Fragen über den Sinn des menschlichen Lebens. Im Folgenden äußert sich Karin Hilfiker darüber, wie sie es empfand, als Jugendliche Zeugin von Krankheit und Tod zu werden: »Zu viele Kinder werden vor der Realität des Todes geschützt. Es machte auf mich einen tiefen Eindruck, ihn zu sehen, dabei zu sein, ihn mitzuerleben und ihn immer ge wärtig zu haben, sogar jetzt. Wenn ich mich zu sehr in etwas verstricke - Schule, Arbeit oder was auch immer -, halte ich inne und denke: He,
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