Wenn Eltern es zu gut meinen
eine Tür weit aufgeht und die »großen Fragen« vor uns stehen. Manche dieser Zeiten sind durch unsere Entwicklung bedingt, etwa, wenn wir anfangen, die Komplexität unseres Universums und unserer Welt und die Kleinheit unseres individuellen Selbst im Vergleich dazu zu begreifen. Andere Zeiten haben mit einschneidenden Ereignissen zu tun, etwa, wenn ein Angehöriger stirbt oder ein Kind geboren wird. Und manche sind winzig kleine Öffnungen - wenn wir beispielsweise einen Augenblick lang mit einem Kind ein Spinnennetz anschauen und staunend vor der komplizierten Welt stehen, die sich darin enthüllt.
Mein jetziger buddhistischer Lehrer, Shinzen Young, ist ein dynamischer und leidenschaftlicher Lehrer des Vipassana - ein Wort aus dem Sanskrit, das man grob mit »die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind« oder »Einsicht« übersetzen könnte. 4 Shinzen ist keine Autoritätsfigur, sondern eher ein zuverlässiger Wegführer, der einem sagt: »Bieg hier nach links ab« oder »Schau noch einmal auf die Karte.« Besser als jeder andere, den
ich kenne, fasst Shinzen zusammen, wessen es bedarf, um unsere Augen für die Weisheit und Einheit zu öffnen, die in unserem Alltag unmittelbar vor uns liegen.
Er erinnert daran, wie es unseren Vorfahren vor tausend oder mehr Jahren ergangen sein muss, beispielsweise den Ureinwohnern Amerikas, die in den Wäldern und Savannen lebten. Er sagt: »Trotz all unserer hervorragenden Ausrüstungen gegen die Kälte können wir heutzutage kaum die winterlichen Temperaturen in Norddakota aushalten. Könnt ihr euch vorstellen, wie es war, dort in Tierfellen und dürftigen Behausungen den Winter zu überstehen?« Jahrtausendelang lebten Menschen unter äußerst schwierigen Bedingungen. Ihr Leben war tagtäglich von den Unbilden des Wetters, von Hunger, Krankheit und Raubtieren bedroht. Schmerz und Leiden waren ihre ständigen Begleiter. Gleichzeitig hatten die Menschen nur wenig Besitz, und es gab kaum etwas, was sie von ihren täglichen Verrichtungen ablenkte. Sie standen mit der Sonne auf und gingen schlafen, wenn sie am Horizont versank. Die Einfachheit ihres Lebens machte es ihnen leichter, sich in Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, Fleiß und Konzentration zu üben. Ohne diese konnten sie nicht überleben.
Ihr Alltag war von spiritueller Bedeutung erfüllt. Jeden Tag vollbrachten sie große Taten: Sie halfen der Sonne, dem Wetter, den Tieren und der Erde, ihre Aufgaben zu versehen. Die Härte und die Einfachheit des Lebens sorgten dafür, dass sie mit Staunen, Achtung und Weisheit in Berührung waren. Unsere Vorfahren brauchten keine besondere Übungspraxis der Meditation und Konzentration, weil diese Fähigkeiten zum Überleben notwendig waren.
In unserem bequemen, von Informationen übersättigten Leben müssen wir uns an besondere Orte begeben, wie Meditationsretreats, Kirchen oder Synagogen, um diese Bedingungen der Einfachheit und Härte zu er leben. Meditationsretreats sind gewöhnlich anspruchsvoll, still und voller Geheimnis. Das Schweigen, die physische und mentale Anstrengung, stundenlang still zu sitzen, die Menge der Teilnehmer, das Teilen von Essen und Schlafquartieren und die auf Konzentration und Gelassenheit gerichtete Aufmerksamkeit stellen sicher, dass alle Teilnehmer neue spirituelle Erfahrungen - große und kleine - von der ihnen innewohnenden Weisheit machen.
Wenn Sie an solchen organisierten spirituellen Veranstaltungen nicht teilnehmen wollen oder können, bietet Ihnen auch der Alltag Gelegenheiten, Ihre Wahrnehmung ganz natürlich zu erweitern und ein Gefühl des Einsseins oder der Transzendenz zu erleben. Kleinen Kindern gelingt dies recht mühelos, besonders unter Bedingungen, in denen sie entspannt oder inspiriert sind: in Gegenwart geliebter Menschen, in einem Blumengarten oder am Meeresstrand. Mein jüngster Sohn schaute einmal eine Sonnenblume an und sagte ganz beiläufig: »Gott ist darin.« Er war damals ungefähr vier Jahre alt. Da das Wort »Gott« bei uns nicht zum Alltagswortschatz gehörte, fragten wir ihn, was er damit meinte. Die Blume sei mit dem Himmel verbunden, sagte er, und die Sonne lege den Himmel in die Blume. Und da Gott im Himmel war, war er natürlich in der Blume. Das alles sah er in einem Sekundenbruchteil. Die Sicht eines Kindes besitzt oft eine natürliche Einfachheit und Offenheit für das Geheimnis.
Im fünften Kapitel habe ich erwähnt, dass die heutige
Depressionsrate in Amerika mehr als zehnmal so hoch ist wie in der
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