Wenn es dunkel wird im Märchenwald ...: Ritter Blaubart
ernst. Ich möchte Sie nicht überfordern.“
„Wie alt sind sie überhaupt?“ Er sah keinen Tag älter aus als zwanzig.
„Möchten Sie, dass ich lüge?“
Sie schüttelte den Kopf. Es spielte keine Rolle. Älter als Mitte dreißig konnte er auf keinen Fall sein. Aber was machte das schon? Sie war erwachsen und sie hatte sich immer schon zu älteren Männern hingezogen gefühlt. Zu Männern, von denen sie etwas lernen konnte und die in der Lage waren, sie zu beschützen.
Sie ging weiter. Alain hatte sie losgelassen und lief langsam hinter ihr her. Wachsam.
Amelie hatte das Ende der Treppe erreicht. Über ihr befand sich ein kuppelförmiges Dach. Die Decke war bemalt und zeigte eine weiße Steinbalustrade vor einem blauen Himmel, in dem zwei Engel schwebten.
Amelie öffnete leicht den Mund und schloss ihn wieder. Der männliche Engel war wohl Eros. Was er da oben mit seiner geflügelten Begleiterin tat, war sicher nicht im Mittelalter entworfen worden.
„Sie haben Sinn für ...“ Sie verstummte, als ihr Blick hinunter in den kreisrunden Saal fiel, der unter ihnen lag. Das Bild an der Decke war eine Spiegelung der tatsächlichen Architektur. Sie stand an einem weißen, steinernen Geländer, vor dem sich eine kreisrunde Öffnung auftat. Unten im Saal waren gut zehn Menschen zu sehen. Drei befanden sich genau unter ihr. Es waren Pierre, das Rotkäppchen und eine bleiche Frau mit Schwanenflügeln. Die Flügel waren alles, was sie noch trug. Sie kniete vor einem samtenen roten Hocker. Aus ihrer Kehle kam das Stöhnen, das Amelies Weg begleitet hatte. Andere Frauenstimmen mischten sich damit. Leisere Stimmen, die weiter entfernt waren.
Sie waren nicht die Einzigen, die ganz mit sich beschäftigt waren. Amelie sah eine Frau und einen Mann im Liebesspiel auf einer roten Couch. Eine weitere Frau lag nackt auf einem weißen Teppich, allein. Ihre Finger lagen über ihrer Scham. Sie bewegte ihre Hand genüsslich. Ihre langen, roten Haare waren wie ein Fächer über den weißen Flokati gebreitet. Nicht weit von ihr waren mehrere Pflanzen in Kübeln aufgestellt. Dahinter gab es ein Gitter, ähnlich in der Form einer Garderobe. Aber es war keine Garderobe. Es war ein zwei Meter hoher Käfig, in dem eine weitere Frau stand. Amelie konnte sie hinter den Grünpflanzen nur verschwommen sehen, doch sie glaubte, zu erkennen, dass die Fremde – die noch vollständig bekleidet war – ihre Arme über dem Kopf hielt. Waren sie an eine Querstrebe des Käfigs festgekettet? Sie schluckte.
„Die meisten meiner Gäste kennen sich sehr gut.“ Alain trat dicht an sie. „Sie nutzen die Gelegenheit dieser Feste. Wo sonst haben sie so viel Freiheit in einer derartigen Umgebung?“
„Man könnte meinen ...“ Amelie verstummte. Sie fühlte sich wie in einem Edelbordell, wollte Alain aber nicht beleidigen. Oder war das für ihn vielleicht gar keine Beleidigung? Was war er für ein Mensch? Wie musste ein Mensch sein, um so freizügig zu leben?
Sie blickte auf die Frau mit den weißen Flügeln. Pierre stand vor ihr, während das Rotkäppchen sich hinter ihr aufbaute. Noch immer war ihr Stöhnen das Lauteste im Saal.
Rotkäppchen griff unter ihren Umhang und zog eine dünne Peitsche heraus. Sie rieb sie am nackten Gesäß der blonden Schwanenfrau, während Pierre vor ihnen stand und ihnen zusah. Er trug noch immer seinen Anzug. Amelie ertappte sich bei dem Gedanken, dass er ihn ausziehen sollte. Ihre Zunge benetzte ihre trockenen Lippen.
Alains Blick folgte ihrem. „Dir gefällt Pierre.“
Sie sah ihn an. „Das klingt eifersüchtig.“ War er das? Sie erwartete, dass er ihr sagen würde, dass sie eingebildet war. Dass er jede haben konnte. Dass er sie nicht wollte.
Stattdessen packte er ihr Kinn und küsste sie. Amelie war so überrascht, dass sie sich nicht wehrte. Seine Lippen waren weich und fest zugleich. Seine Zunge erkundete ihre. Von seinen falschen Zähnen fühlte sie nichts. Er musste sie abgelegt haben. Sie umklammerte seine Schultern. Seine Küsse schmeckten nach mehr. Nach einem Versprechen, das er ihr längst gegeben hatte, und das er nun einlöste.
„A... Alain ...“, brachte sie atemlos hervor, unschlüssig, ob sie ihm Einhalt gebieten wollte. Es wäre klüger. Aber ihr Körper war nicht klug. Ihr Körper forderte das ein, was sie sich schon so lange wünschte. Sie schmiegte sich an ihn. Ließ ihre Hand von seiner Schulter zu seiner Brust wandern. Sie spürte, wie sein Brustkorb sich hob und senkte, und
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