Wenn Es Dunkel Wird
Blick wanderte zu Julian, der mich in diesem Moment ansah. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Und die hier?« Ohne dass es jemand gemerkt hatte, hatte Tammy eine Karte gezogen.
»Schon wieder so was Komisches«, meinte Claas und fing an, in dem Heftchen zu blättern.
Ich stand auf, murmelte ein »Bin gleich wieder da«. An der Gartenmauer blieb ich stehen und holte Luft. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterrann.
Tammy hatte die Vier der Stäbe gezogen. Hochzeit.
Jetzt tauchten sie wieder vor mir auf, die Bilder der letzten Tage, scharf und deutlich, in Farbe. Julian und Tammy zusammen auf der Couch, sein Arm um ihre Schultern gelegt, Julian und Tammy in der Nacht des Einbruchs. Wie ein Paar, hatte ich gedacht.
Julian, der den Arm nach Tammy ausstreckt, sie am Handgelenk hält, Julians Blick auf Tammy, als sie im Liegestuhl liegt, Julians »wir«, ihre Geschichten, ihre gemeinsame Vergangenheit …
Habe ich es nicht die ganze Zeit schon geahnt, wollte es aber nicht wahrhaben? Hatte ich es nicht verdrängt, nicht richtig hingesehen, es mir so zurechtgebogen, dass es mir in den Kram passte?
»Na, enttäuscht?« Ich hatte Tammy nicht kommen hören. Ich wandte mich von den Lichtern im Tal ab und sah sie an.
»Wovon redest du?«, fragte ich so unbeteiligt wie möglich.
»Glaubst du, ich hab nicht gemerkt, dass du in ihn verliebt bist?« Ihre Stimme klang scharf wie eine Messerklinge. Ich bekam eine Gänsehaut.
»Du solltest dich mal dabei sehen, wie du ihn anhimmelst«, begann sie. »Wie du in deinem billigen Bikini vor ihm auf- und abstolzierst …«
»Hör auf!« Meine Stimme zitterte, aber das war mir egal, noch ein Wort und ich würde mich auf sie stürzen, ihren Kopf packen und auf die Mauer …
Tammy kam einen Schritt näher und lachte leise. »Du bist ja so jämmerlich, Melody!«
»Und du?« Ich sprach laut, aber nur so laut, dass es Claas und Julian nicht hören könnten. »Dein Bruder ist in dich verliebt und du, du egozentrische Ziege, merkst es nicht mal!«
Sie hörte für einen Moment auf zu atmen, dann schrie sie: »Du bist ja total durchgeknallt! Mann, hast du eine kranke Fantasie!« Sie fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Du bist ja bloß eifersüchtig, krankhaft eifersüchtig, weil er sich nicht für dich interessiert! Außerdem: Jeder hätte diese Karten ziehen können! Jeder!«
»Die Karten lügen nicht!«, hörte ich mich sagen und es war mir egal, dass es abgedroschen klang. Es war die Wahrheit.
»Jetzt pass mal gut auf, Melody.« Ihr Gesicht war meinem ganz nah, ihr Blick bohrte sich in meine Augen und dann sagte sie ganz leise und bedrohlich: »Wenn du noch mehr Stress machst, fliegst du raus. Ich muss bloß meinen Vater anrufen, der schickt jemanden vorbei – falls du nicht freiwillig verschwindest. Kapiert?«
Ihr blondes Haar schwang herum. Mit schnellen Schritten ging sie wieder auf die Terrasse.
Ich hörte noch leises Gemurmel, dann, wie alle drei aufstanden und hineingingen. Keiner kam zu mir. Sie hatten sich verbündet. Gegen mich.
Wie lange ich noch da draußen stand, weiß ich nicht mehr. Ich verlor das Gefühl für Zeit. Meine Gedanken flogen in die Nacht, drehten Schleifen, verloren sich in der Nacht. Als sie irgendwann zurückkamen, zur Villa, zur Gartenmauer, zu mir, kam es mir vor, als wären sie auf der langen Reise abgekühlt. Und auf einmal fragte ich mich, ob ich mir das alles mit Julian und Tammy nur zurechtgelegt hatte, weil ich es nicht aushalten konnte, dass Julian offensichtlich von mir nichts wissen wollte. Aber Claas war mit seiner Schwester doch nicht so gewesen, oder? Diese Blicke von Julian zu Tammy, so hatte Claas Carolin doch nie angesehen oder hab ich das nur nie bemerkt? War das nur normale geschwisterliche Zuneigung zwischen Julian und Tammy? Bildete ich mir das alles nur ein? Hat Claas seiner Schwester jemals das Haar aus der Stirn gestrichen? Nein … aber, mein Gott, Mel, dachte ich, du bist einfach stockeifersüchtig, das ist es. Du siehst einfach nicht mehr klar, bist vollkommen benebelt.
Warum sollte Julians Karte auf Tammy hinweisen? Er könnte doch auch in irgendeine andere verliebt sein, oder? Und die Hochzeitskarte von Tammy könnte doch ebenso jemand anderen meinen – nicht Julian. Sie schwärmte doch von so einem Typen in Kalifornien. Und abgesehen davon: Hatten denn die Karten überhaupt wirklich eine Bedeutung?
Du hast dich in was reingesteigert, Mel, redete ich mir ein. Atme mal durch
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