Wenn Es Dunkel Wird
Augen.
Ich wickelte mich in ein Handtuch und ging hinunter. Still lag der Garten vor mir, bis auf die zirpenden Zikaden, die wohl nie schliefen. Auf dem Wasser spiegelte sich der Mond. Ich ging mit nackten Füßen über die immer noch sonnenwarmen Fliesen zum Pool, ließ das Handtuch fallen und stieg die Stufen hinunter ins Wasser. Es war wunderbar warm und es umspülte meinen Körper. Ich tauchte unter, und als ich die besondere Ruhe unter Wasser und meine Schwerelosigkeit spürte, weinte ich still. Es kam einfach über mich, ich war vollkommen durcheinander.
Nach einer Weile ließ ich mich nach oben treiben und legte mich auf den Rücken. Die Sterne erschienen mir jetzt nicht mehr wie Nadeln, sondern wie Abertausende funkelnder Diamanten. Nur der Mond – der Mond blieb die Scheibe, die Münze … Nein, Mel, hör auf damit. Es war ein Spiel, Schluss, vorbei.
Ich schwamm ein paar Züge und spürte, dass ich wieder klarer denken konnte. Etwas hatte sich meiner bemächtigt, so kam es mir vor, und jetzt löste es sich von mir. Die Sache mit dem Tarot war eine schlechte Idee gewesen.
Und ich hatte mich in etwas hineingesteigert. Julian und Tammy, mein Gott, sie waren Geschwister! Sie lebten seit ihrer Geburt zusammen, wieso sollten sie dann nicht wie ein Ehepaar auf andere wirken, wenn sie nebeneinandersaßen? Warum sollte dann Julian nicht seiner Schwester zur Hilfe kommen, sie in den Arm nehmen, wenn sie sich fürchtete?
Du verstehst ihre Beziehung nicht, Mel, weil du ein Einzelkind bist.
Ja, so war es wohl.
Entschlossen, Julian und meine Fantasien weit von mir zu schieben, stieg ich aus dem Wasser, schlang mir das Handtuch um und ging zurück zum Haus. Ich stockte. Blieb stehen. Hörte auf zu atmen.
Vor mir – im Wohnzimmer war etwas. Ein Schatten. Ich dachte an den Einbrecher, ich wollte schreien, aber wie in meinem Traum konnte ich nicht.
»Setz dich«, kam Julians Stimme aus der Dunkelheit und wie auf Stichwort ging der Hirschgeweihleuchter über dem Esstisch an. Das grelle Licht blendete mich, aber so viel konnte ich erkennen: Da saß wirklich er, Julian, die Haare zerrauft, sein weißes T-Shirt zerknittert vom Schlaf. Er hat wohl auch schlechte Träume gehabt, dachte ich, kurz bevor ich den Stapel Karten vor ihm bemerkte. Ohne zu lächeln, schob er ihn mir über den Tisch entgegen. »Misch!«, befahl er und ich, überrumpelt und überrascht, gehorchte.
Tammy musste es ihm doch erzählt haben.
Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich. Es kam mir vor, als hielte ich einen Urteilsspruch in den Händen. Wie eine vermeintliche Hexe, die auf den Scheiterhaufen wartet.
Wusste er, wie weh er mir tat? Genoss er es vielleicht sogar, weil er sich an mir rächte, für die Verwirrung, die ich in ihm ausgelöst hatte?
Ich ließ ihn abheben, mischte wieder und legte den Stapel vor ihn.
Er sah mir in die Augen, als er eine Karte zog, sie auf den Tisch legte. Fünf Scheiben.
Ich freute mich, insgeheim. Es geschah ihm recht.
Wortlos schob er mir das Buch hin. Ich wusste auch ohne Buch, was die Karte bedeutete. Außerdem stand es groß und breit drauf.
Doch als ich die Seite aufgeblättert hatte, nahm er mir grob das Buch aus der Hand, las, was dort stand, und warf es wieder auf den Tisch. »Siehst du«, sagte er und lächelte, »austauschbare Allgemeinplätze. Alles trifft auf jeden zu. Du siehst nur das in den Karten, was du sehen willst.« Grinsend stand er auf und sagte lässig: »Was ist, kommst du auch mit schwimmen?«
Verwirrt saß ich da und schüttelte den Kopf. Er drehte sich um und ging hinaus. Das erste Tageslicht, das langsam den Horizont erhellte, hob die Umrisse seines durchtrainierten Körpers, die breiten Schultern, die schmalen Hüften, die muskulösen Beine hervor.
Ich fühlte mich besiegt, geschlagen in einer Schlacht, die ich selbst heraufbeschworen hatte. Schließlich war ich es, die das Tarot gekauft hatte.
Ich sah ihn ins Wasser tauchen. Ringe breiteten sich an der Oberfläche aus.
Vor mir lag seine Karte. Fünf dunkelblaue Scheiben wie ein Räderwerk, miteinander verbunden und zugleich blockiert. Quälerei.
Die Situation ist spannungsgeladen. Eine aufklärende Kommunikation erscheint unmöglich. Jetzt hast du die Möglichkeit, den Konflikt herbeizuführen, damit du dich befreien kannst. Sprich die Dinge klar aus!
Einem Impuls folgend zog ich für mich eine Karte aus dem Stapel.
In diesem Moment hörte ich Schritte.
»He, schon wieder beim Hexen!« Claas kam nur mit einem Handtuch
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