Wenn Frauen zu sehr lieben
Phase in seinem Genesungsprozess, die irgendwann zu Ende ging. Als die Zeit seine Wunden heilte, als Selbstbesessenheit und Selbstmitleid durch ein viel gesünderes Selbstbewusstsein abgelöst wurden, empfand er Nancys Überfürsorglichkeit, die ihm früher so angenehm gewesen war, auf einmal als lästig. Im Gegensatz zu Tylers zeitweiliger übertriebener Abhängigkeit war ihr Bedürfnis, gebraucht zu werden, keine vorübergehende Phase, sondern ein grundlegender Charakterzug, der ihr Verhalten und ihre Gefühle in der Beziehung zu einem anderen Menschen maßgeblich bestimmte. Sie war durch und durch «Krankenschwester», sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause. Tyler wäre sicher auch nach der Erholung von seinem Scheidungsschock ein relativ abhängiger Partner geblieben, doch war sein Bedürfnis, umsorgt zu werden, nicht groß genug, um ihrem Bedürfnis zu genügen, das Leben eines anderen Menschen in die Hand zu nehmen und zu kontrollieren. Seine Gesundheit, für die sie sich anscheinend so unermüdlich eingesetzt hatte, läutete in Wirklichkeit das Ende ihrer Beziehung ein.
Bernard : 36 Jahre alt; ehemaliger leitender Angestellter, Alkoholiker seit seinem fünfzehnten Lebensjahr; seit zwei Jahren trocken
Nach meiner Scheidung trieb ich mich etwa ein Jahr in der Single-Szene herum, bevor ich Rita kennenlernte. Sie hatte lange Beine, dunkle Augen und sah aus wie ein Hippie. In der ersten Phase unserer Bekanntschaft rauchten wir oft Marihuana zusammen. Ich hatte noch immer viel Geld, und eine Zeit lang verstanden wir uns sehr gut. Aber Rita war eigentlich nie ein richtiges Hippie-Mädchen. Sie hatte zu viel Verantwortungsbewusstsein, um sich wirklich gehen zu lassen. Auch wenn sie ein bisschen Gras mit mir rauchte, konnte sie es doch nie ganz verdecken, dass sie aus der oberen Mittelschicht stammte. In ihrer Wohnung sah es immer ordentlich aus. Ich hatte das Gefühl, bei ihr sicher zu sein. Sie würde mich schon nicht zu weit abrutschen lassen.
Bei unserer ersten Verabredung gingen wir richtig schön essen und kamen anschließend in ihre Wohnung zurück. Ich betrank mich total und hatte dann wohl einen Filmriss. Jedenfalls erwachte ich auf ihrer Couch, eingehüllt in eine hübsche weiche Steppdecke; unter meinem Kopf lag ein parfümiertes Kissen, und ich fühlte mich, als wäre ich nach Hause gekommen oder in einen sicheren Hafen. Rita wusste, wie man sich um Alkoholiker kümmert. Ihr Vater, ein Bankier, war an dieser Krankheit gestorben. Jedenfalls zog ich schon ein paar Wochen später bei ihr ein. In den folgenden Jahren führte ich mich auf wie ein Vabanquespieler – so lange, wie ich damit durchkommen konnte, das heißt so lange, bis ich alles verloren hatte.
Nachdem wir etwa sechs Monate zusammengelebt hatten, rauchte sie überhaupt kein Marihuana mehr. Wahrscheinlich dachte sie sich, wenigstens sie müsse den Überblick behalten, denn ich fand mich überhaupt nicht mehr zurecht. Und dann heirateten wir auch noch, in all dem Chaos. Ich bekam daraufhin richtige Angst. Nun hatte ich mir schon wieder eine neue Verantwortung aufgehalst, obwohl ich mit Verantwortungen noch nie besonders gut zurechtgekommen war. Ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, als wir heirateten, verlor ich mein gesamtes Geld. In meiner damaligen Verfassung war ich nicht mehr in der Lage, Geschäfte zu führen: Ich trank mittlerweile den ganzen Tag über. Rita wusste nicht, dass es so schlimm um mich stand. Ich erzählte ihr beispielsweise, ich hätte schon morgens eine wichtige Sitzung. In Wahrheit fuhr ich mit meinem Mercedes zum Strand hinaus, um dort zu trinken. Als meine Geschäfte schließlich auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt waren und ich Schulden in der ganzen Stadt hatte, wusste ich nicht mehr, was ich tun sollte.
Ich ging auf eine lange Reise, wobei ich die Absicht hatte, mich im Auto umzubringen und das Ganze wie einen Unfall aussehen zu lassen. Aber sie fuhr mir nach, fand mich in dem schäbigen kleinen Hotel, in dem ich mich verkrochen hatte, und nahm mich mit nach Hause. Mein gesamtes Geld war weg. Sie brachte mich dennoch in einer Alkoholentzugsklinik unter. Es klingt vielleicht komisch, aber ich war ihr nicht dankbar. Ich war wütend, verwirrt, sehr verängstigt – und hatte fast das ganze erste Jahr nach meinem Entzug sexuell überhaupt kein Interesse an ihr. Ich weiß immer noch nicht, ob wir es zusammen schaffen werden, aber immerhin wird es Tag für Tag ein bisschen besser.
Warum sich Bernard von Rita angezogen
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