Wenn Ich Bleibe
für sie werden, wenn all die tröstenden Worte und mitfühlenden Mienen sie schier in den Wahnsinn
treiben, nicht zuletzt, weil wir beide keine anderen wirklichen Freunde in der Schule haben. Aber sie wird zurechtkommen. Sie wird weitergehen. Sie wird Oregon verlassen. Sie wird aufs College gehen. Sie wird neue Freunde finden. Sie wird sich verlieben. Sie wird Fotografin werden, eine, die nie in einen Helikopter steigen muss. Und ich wette, sie wird gestärkt aus dem hervorgehen, was ihr heute widerfährt. Ich habe das Gefühl, dass man in gewisser Weise unbesiegbar wird, wenn man so etwas durchleben muss.
Ich höre mich an wie eine Heuchlerin, ich weiß. Wenn es so ist, wie ich es eben beschrieben habe, sollte ich dann nicht bleiben? Sollte ich es nicht auch durchleben? Wenn ich etwas mehr Übung hätte, wenn es in meinem Leben noch andere Katastrophen gegeben hätte, wäre ich vielleicht besser darauf vorbereitet, eher in der Lage, weiterzumachen. Mein Leben war nicht vollkommen. Ich habe Enttäuschungen erlebt, war einsam, frustriert und wütend – all das, was jeder mitmacht. Aber was ein gebrochenes Herz angeht, habe ich keine Erfahrung. Nichts hat mir die Härte verliehen, die ich bräuchte, um mit meinem zukünftigen Leben zurechtzukommen, wenn ich bleiben würde.
Kim erzählt mir gerade, wie Willow sie vor der Einkerkerung bewahrt hat. Und sie beschreibt, wie Willow förmlich das ganze Krankenhaus übernommen hat. In ihrer Stimme liegt unendliche Bewunderung. Ich stelle mir vor, dass Kim und Willow Freundinnen werden,
obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen zwanzig Jahre beträgt. Es macht mich glücklich, wenn ich mir vorstelle, dass sie zusammen Tee trinken oder ins Kino gehen, miteinander verbunden durch das unsichtbare Band zu einer Familie, die es nicht mehr gibt.
Jetzt zählt Kim alle Personen, die heute meinetwegen in diesem Krankenhaus waren, an den Fingern ab. »Deine Großeltern, deine Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Adam und Brooke Vega und etliche Unruhestifter, die sie in ihrem Schlepptau hatte. Die Leute aus Adams Band – Mike und Fitzy, Liz und ihre Freundin Sarah, die alle unten im Wartezimmer sitzen, seit man sie aus der Intensivstation geworfen hat. Professor Christie, die die halbe Nacht hier war, ehe sie wieder nach Hause fahren musste, weil sie heute Morgen Termine hat. Henry und das Baby, die auf dem Weg hierher sind. Das Baby ist um fünf Uhr aufgewacht, und Henry rief an, dass er es nicht mehr länger zu Hause aushalten würde. Und Mom und ich«, schließt Kim ihre Aufzählung ab. »Verflixt. Wie viele sind das jetzt? Ich habe den Faden verloren. Aber es sind eine ganze Menge. Und noch etliche mehr haben angerufen und wollten kommen, aber deine Tante Diane meinte, sie sollten damit noch warten. Sie sagt, dass wir auch so schon für genug Aufregung sorgen. Und ich glaube, mit ›wir‹ meinte sie Adam und mich.« Kim schweigt und lächelt für den Bruchteil einer Sekunde. Dann gibt sie dieses komische Geräusch von sich, halb Hüsteln, halb
Räuspern. Dieses Geräusch sagt mir, dass sie all ihren Mut zusammennimmt, sich bereit macht, um von den Felsen zu springen, hinein in das eisige Wasser.
»Ich erzähle dir das alles nicht einfach so«, sagt sie. »Im Wartezimmer sitzen etwa zwanzig Menschen. Ein paar davon sind mit dir verwandt. Andere sind es nicht. Aber wir alle sind deine Familie.«
Sie verstummt. Dann beugt sie sich über mich, sodass ihre Haarspitzen mein Gesicht berühren. Sie küsst mich auf die Stirn. » Du hast immer noch eine Familie «, flüstert sie.
Letztes Jahr veranstalteten wir am Labor Day eine spontane Party. Es war ein hektischer Sommer gewesen. Erst mein Camp, und dann waren wir zu der alljährlichen Familienzusammenkunft nach Massachusetts gefahren. Adam und Kim hatte ich kaum zu Gesicht bekommen, und auch meine Eltern beklagten sich, dass sie Willow, Henry und das Baby seit Monaten nicht mehr gesehen hatten. »Henry sagt, sie fängt schon an zu laufen«, erklärte mein Vater an diesem Morgen. Wir saßen im Wohnzimmer vor dem Ventilator, in der Hoffnung, nicht vor lauter Hitze zu zerschmelzen. Oregon wurde von einer Hitzewelle heimgesucht. Es war zehn Uhr vormittags und ging schon auf dreißig Grad zu.
Meine Mutter schaute auf den Kalender. »Sie ist jetzt zehn Monate alt. Die Zeit verfliegt.« Dann sah sie Teddy und mich an. »Wie kann es sein, dass ich eine
Tochter habe, die jetzt ins Abschlussjahr auf der Highschool kommt? Wie ist es
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