Wenn Ich Bleibe
Mitternacht eine SMS geschickt.
»Gehst du heute Abend hin?«, fragt mein Vater.
»Ich wollte eigentlich schon. Es kommt darauf an, ob nicht vielleicht im ganzen Land wegen des Schnees die Bürgersteige hochgeklappt werden.«
»Aber sieh doch selbst: Es ist tatsächlich ein Schneesturm«, sagt mein Vater und deutet auf eine einzelne Schneeflocke, die vor dem Fenster zu Boden trudelt.
»Ich soll mich außerdem noch bei irgendeinem Pianisten vom College melden, den Professor Christie ausgegraben hat, und einen Termin mit ihm vereinbaren.« Professor Christie, eine pensionierte Musikdozentin
an der Universität, mit der ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, ist immer auf der Suche nach neuen Opfern, die mit mir spielen müssen. »Das hält dich auf Trab, damit du all den Snobs in Juilliard zeigen kannst, wie man es richtig macht«, sagt sie.
Ich bin noch nicht einmal in Juilliard aufgenommen, obwohl das Vorspielen ziemlich gut lief. Die Bach-Suite und das Stück von Schostakowitsch sind aus mir herausgeflossen wie noch nie zuvor, als ob meine Finger eine Verlängerung von Saiten und Bogen wären. Als ich fertig war – keuchend, mit zitternden Beinen, weil ich sie so fest zusammengepresst hatte -, hat einer der Juroren tatsächlich applaudiert, was ich für ein gutes Zeichen hielt. Ich nehme an, das passiert dort nicht sehr oft. Als ich aus dem Zimmer schlurfte, erklärte mir derselbe Juror, es sei eine ganze Weile her, dass man in der Schule ein »Oregon-Mädchen vom Lande« gesehen habe. Professor Christie nahm seine Worte als Garantie, dass ich die Prüfung bestanden hätte. Ich bin mir allerdings nicht so sicher. Und ich bin mir auch nicht hundertprozentig sicher, dass ich es will. Genauso wie »Shooting Stars« kometenhafter Aufstieg würde meine Aufnahme in Juilliard einige Probleme mit sich bringen, oder, besser gesagt, die Schwierigkeiten, die sich in den letzten Monaten entwickelt haben, noch weiter vergrößern.
»Ich brauche noch mehr Kaffee. Sonst noch jemand?«, fragt meine Mutter und baut sich neben unserer uralten Kaffeemaschine auf.
Ich ziehe den Geruch des Kaffees durch die Nase ein, das reiche, dunkle, ölige Aroma der französischen Marke, die wir alle lieben. Allein schon der Duft muntert mich auf. »Ich glaube, ich gehe wieder ins Bett«, sage ich. »Mein Cello ist in der Schule, also kann ich nicht mal üben.«
»Nicht üben? Vierundzwanzig Stunden lang nicht üben? Da hüpft mir ja das Herz im Leib!«, grinst meine Mutter. Obwohl sie sich mit den Jahren an die klassische Musik gewöhnt hat – »das ist so ähnlich, als müsste man lernen, einen stinkenden Käse zu genießen« -, ist sie nicht immer ein dankbares Publikum für meine endlosen Übungsstunden.
Von oben ertönt ein Krachen und Dröhnen. Teddy hämmert auf seinem Schlagzeug herum. Es hat früher meinem Vater gehört, als er noch in einer Band spielte, die in unserer Stadt ganz groß herauskam, anderswo aber völlig unbekannt blieb. Nebenbei arbeitete er in einem Plattenladen.
Mein Vater grinst über den Krach, den Teddy veranstaltet. Bei dem Anblick verspüre ich einen vertrauten Stich. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe mich schon oft gefragt, ob mein Vater wohl enttäuscht darüber ist, dass es mich nicht zur Rockmusik hingezogen hat. Ich habe es ja versucht. Aber dann, in der dritten Klasse, bin ich eines Tages im Musikunterricht zum Cello geschlendert – es wirkte auf mich fast menschlich. Es sah so aus, als ob ich es nur in die Hand nehmen
müsste, damit es mir seine Geheimnisse anvertrauen würde. Und so fing ich an zu spielen. Seitdem sind fast zehn Jahre vergangen, und ich habe nicht mehr damit aufgehört.
»So viel zu deinem Plan, wieder ins Bett zu gehen.« Meine Mutter muss brüllen, um Teddys Radau zu übertönen.
»Schaut euch das an, der Schnee schmilzt schon wieder«, sagt mein Vater. Ich gehe zur Hintertür und werfe einen Blick hinaus. Ein Flecken aus Sonnenlicht glüht dort, wo die Wolken aufgerissen sind, und ich kann hören, wie sich das Eis zischend in Tropfen verwandelt. Ich mache die Tür wieder zu und gehe zurück in die Küche.
»Meiner Meinung nach haben die Behörden überreagiert«, sage ich.
»Mag sein, aber ihre Entscheidung können sie nicht mehr rückgängig machen. Die Schulen bleiben geschlossen, und ich habe mir heute freigenommen«, sagt meine Mutter.
»In der Tat. Aber wir könnten doch die unerwartete Gelegenheit beim Schopf packen und irgendwo hinfahren«, erwidert
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