Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
muss, dann für ein echtes Abenteuer.
Wir sind sowieso immer auf dem Sprung, auch wenn wir nur darauf warten, dass Andrea aus der Schule kommt, oder wenn er uns in der Menge mal wieder zu entwischen droht.
Die Zeit ist reif, um den Sprung zu wagen und etwas Neues zu riskieren.
Die Idee einer großen Reise begann in mir zu arbeiten. Wie ein Virus. Ohne erkennbare Anzeichen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, einen detaillierten Plan zu machen. Für Andrea ist sowieso alles unvorhersehbar, jeder einzelne Tag, jede Stunde: So sollte es auch für mich sein, und es würde kommen, wie es kommen musste.
Eines Tages bin ich Andrea entgegengegangen. Ich sah ihn von weitem, wie er mit seinem raschen Schritt aus der Schule kam, und fragte ihn, ob es ihm Spaß machen würde, mal etwas ganz anderes in den Ferien zu unternehmen. Doch er wurde von der Wäsche abgelenkt, die in einem Hof an der Leine flatterte. Eilig lief er hin und begann die Laken zu falten, die Wäscheklammern zu versetzen, die Socken glattzuziehen.
»Wollen wir weit weg fahren?«, fragte ich.
Er sah mich flüchtig an und lächelte.
»Andrea, fahren wir nach Amerika?«
»Amerika schön.«
Da, bei dieser Wäsche, die nun so sorgfältig geordnet war, dass unverkennbar Andrea am Werk gewesen sein musste, sagte ich mir: Andrea und ich, wir fahren quer durch Amerika und schauen, wohin es uns verschlägt. Wir werden den ganzen Sommer umherstreifen und den Kontinent in all seinen Facetten erkunden.
Tankstellen, Asphaltbänder, rasche Mahlzeiten, nette Leute, Leute, die davonlaufen, Leute, die uns am Straßenrand zuwinken. Weiter, immer weiter, ein bis zwei Monate, wir werden nicht anhalten, bis wir müde werden, uns doch etwas zu viel wird. Vielleicht ist es ein großartiger Kontinent für zwei wie Andrea und mich. Hauptsache, niemand sagt zu uns: »Stopp, was wollt ihr hier? Aufruhr stiften?« Was für einen Aufruhr denn? Sie meinen die Papierschnitzel, die Andrea überall zurücklässt, und die Bäuche, die er gern anfasst, und die Küsse, die er freigiebig austeilt? Na gut, wir werden aufpassen, uns mäßigen, nicht stören, Amerika, versuche, tolerant zu sein!
Ich wollte wissen, was er von der Idee mit der Reise hielt, weshalb wir uns mit seiner Mama an den Computer setzten. Wenn er mit mir allein ist, schreibt er nicht, er ist an die Anwesenheit seiner Mutter gewöhnt.
Seine Antwort hat mich verwirrt. »erträgst du andrea mit autismus«, hat er geschrieben.
Klar werde ich Andrea ertragen, was denn sonst? Keine Sorge, habe ich erwidert, du wirst mich genauso ertragen müssen.
Ich habe ihn auch gefragt, was ihm denn lieber wäre: eine ruhige Reise oder viele Feste? »ruhig und feste«, hat er mir geschrieben. Beides. Super, Andrea, das ist super. Das wird unsere Reise. Verrückt, aufregend, ein bisschen leichtsinnig. Und ein bisschen heilsam.
Wie immer sah ich staunend zu, wie Andrea die Tasten drückte, wie er die Faust aufs Herz legte, bevor er einen Buchstaben tippte. Faust aufs Herz, Buchstabe, Buchstabe, Buchstabe, Faust aufs Herz, Wort.
Die ganze Welt dringt ungehindert in Andrea ein, wie ein bergab rollender Stein, wie eine Lawine. Andrea hat keine Abwehr, keine Barrieren, er saugt alles auf wie ein Schwamm, und man braucht ihn nur anzuschauen, um zu verstehen, dass er ein anderes, ganz eigenes, inniges Verhältnis zur Realität hat. Wenn er spricht, drückt er sich zusammenhanglos mit abgehackten Worten aus: »daheim«, »unterwegs«, »das grüne«. Seine Antworten klingen mechanisch, sie nehmen einen Teil der Frage wieder auf.
Was er durchsickern lässt, ist ein Konzentrat: Er ist ein Alchemist, der Worte destilliert. Man muss nur lernen, sie zu hören.
Am Computer kann er ganze Sätze schreiben. Das hat er in jahrelanger Übung gelernt, mit Hilfe einer Person, die ihn anleitete.
Unweigerlich gab es Leute, die mir ihre Zweifel an dieser Methode kundtaten, und lange habe ich selbst nicht an das geglaubt, was ich sah. Ich dachte, die Sätze, die auf dem Bildschirm erschienen, kämen durch das Eingreifen des Betreuers zustande, der neben ihm saß. Doch mit der Zeit lernte Andrea zu meinem großen Erstaunen, sich selbständig mitzuteilen. Inzwischen schreibt er am Computer, ohne dass irgendwer seinen Arm lenkt, und äußert seine Meinung zu unterschiedlichsten Themen: Autismus, Leben, Liebe. Ich hebe alle seine Texte auf, von den wirrsten und zusammenhanglosesten bis zu den rührendsten. Es sind Botschaften aus seiner Welt.
Dann habe ich das
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