Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
davon, ich hatte noch nicht den Helm abgenommen, und schon war er verschwunden. »Achtung, Andre«, sagte ich, »behalt Papa immer im Auge.«
»Wen im Auge?«
»Papa.«
Ich zeigte auf die Polizeiautos, die Blinklichter, wir ahmten die Sirenen nach, schossen auf einem Pass mit den Fingern auf imaginäre Kojoten. Manche Pässe in den Alpen sind voll mit Kojoten.
Das war unsere Feuerwehrübung, unsere Art, ein kleines, aber eingespieltes Team zu werden. Sich auf Anhieb verstehen, eine akzeptable Koordination hinkriegen. Abends dann jede Menge Filme und Sendungen über Amerika, weil ich wollte, dass er sich an Landschaften und Details erinnert, damit er nicht auf dem Mond landet, ohne zu wissen, was für Steine er dort findet.
»Wer ist John Wayne?«
»John Wayne schön.«
»Ach was, schön! Ein Cowboy ist er.«
Er lachte.
Alles okay, sagte ich mir.
Und jetzt, Andre, versuche ich mal, dir zu erklären, welchen Weg wir fahren: Miami, dann links Richtung Key West, quer durch Florida und dann Alabama, Mississippi, Louisiana und zum Schluss Los… Los…
»Loslassen.«
»Quatsch, loslassen, du Blödmann, Los Angeles! Und dann? Was machen wir, wenn wir in Los Angeles müde sind?«
»Müde Papa.«
»Werden wir müde sein?«
»Ja.«
Coast to coast, ein Klassiker. Klassiker haben etwas Beruhigendes, was wären es sonst für Klassiker? Ich beschloss, nur ein Motorrad und ein Hotel in Miami zu buchen.
Zum Abschied haben wir uns alle zusammengesetzt: die Mutter, unser jüngerer Sohn, Andrea und ich. Um uns auf diese Trennung vorzubereiten.
Auch unser Hund Filippo war dabei. Er durfte nicht fehlen: An seinem ersten Tag bei uns hatte Andrea ihn zur Begrüßung schwungvoll aus dem Fenster geworfen. Filippo war zwei Monate alt und hatte keine Absicht, das Fliegen zu lernen.
Ich sah Andrea an und schrieb am Computer einen Satz: »Ciao, gleich geht es los.«
Erstaunlich prompt antwortete er: »Wir haben Spaß danke Papa.«
Weisst du, was meine einzige Angst ist? Dass wir uns nicht wiederfinden, wenn wir uns aus den Augen verlieren. Was meinst du dazu?
ich bleibe bei papa
Und was machst du, wenn du dich verläufst und mich nicht mehr siehst?
ich sterbe
Aber doch nicht sofort. Was würdest du vor dem Sterben machen?
ich schaue mich um
Und wenn du mich ganz lang nicht siehst… dann…
rufe ich papa
Aber wenn wir uns verloren haben und ich nicht komme und es dunkel wird… was machst du dann?
ich setze mich ins café und schlafe und warte
Gut. Weisst du, was du noch machen musst? Sobald du einen Polizisten siehst, hängst du dich an ihn und lässt ihn nicht mehr los, kapiert?
ja gut
Und was sagst du zu ihm?
papa weggelaufen
Du musst sagen »lost«, das heisst auf Englisch, dass du dich verirrt hast. Und wenn sie spanisch reden, musst du sagen »perdido«… Okay?
perdido
Bist du zu jedem Abenteuer bereit? Dauernd woanders schlafen, essen, was wir finden, und sich allem anpassen?
andrea bereit
Willst du noch etwas fragen oder wissen, bevor wir losfahren?
ob papa sich freut
Riesig, ich kann’s kaum erwarten. Ich habe ja auch noch nie so eine Reise gemacht…
wir sind abenteurer
Klar. Fürchtest du dich vor irgendwas?
nein
Ich bat ihn, sich von seinem Bruder zu verabschieden.
ruhig allein ohne brüderlein
Und auch von Mama.
ciao liebe mama die küsse geb ich dir
Wir waren alle gerührt. Es kam uns vor wie beim Abschied der Besatzung einer Mondrakete. Andrea und ich waren die Astronauten. Wer weiß, ob wir genug trainiert hatten. Ich fragte mich, ob die Schwerkraft in Amerika stärker oder schwächer war als hier, ob wir uns leichter oder schwerer fühlen würden.
Kurz vor der Abreise wurde mir plötzlich bang: Ich lief zum Schreibtisch und suchte in den Schubladen nach den Ausdrucken von Andreas Texten. Mit der Schere schnitt ich die schönsten Sätze heraus und die, die mich besonders beeindruckt hatten. Ich beschloss, sie mitzunehmen, zusammen mit einigen Post-its, auf denen ich mir notiert hatte, welche Stationen wir uns nach Ansicht unserer Freunde keinesfalls entgehen lassen durften.
Eine Reise aus Papier, aus Papieren.
Den letzten Abend verbrachte ich allein und versuchte, alles noch einmal durchzugehen. Zwei Rucksäcke und die Tasche mit den Motorradanzügen sollten reichen: Ich hatte die nötige Anzahl Unterhosen berechnet und dabei die Dichte der Waschsalons pro Quadratkilometer berücksichtigt; falls es knapp werden sollte, würde es der Stoff unserer groben Jeans auch tun, noch nie ist jemand an einem
Weitere Kostenlose Bücher