Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
einem hochsensiblen Tyrannen, der seine Freiheit braucht.
Deshalb schicken wir ihn allein zur Schule. Es sind seine zwanzig Minuten freier Ausgang, zehn hin und zehn zurück. »Habt ihr denn keine Angst?«, fragt man uns. Doch, sicher. Jeden Tag. Aber Andrea hat ein so strahlendes Lächeln, wenn er morgens den Rucksack schultert und nach der Schule wieder ablädt, dass es alle Sorgen wettmacht. Denn frei zu sein ist mehr, als nur zu atmen und ein Herz zu haben, das schlägt – das allein genügt nicht.
Sicher, umsonst ist Freiheit nicht zu haben: Wir mussten unterschreiben, dass wir die Verantwortung übernehmen; ein autistischer Junge, der allein zur Schule geht, ist ein großes Problem, ganz klar: für die Lehrer, für die Verkehrspolizisten, für die Bürger, für all die europäischen Autofahrer und litauischen Touristen, die hier vorbeikommen.
Es war an einem Abend Ende Mai, ich konnte nicht einschlafen. Ich dachte an einen Aufschrei von Andrea ein paar Tage zuvor, nach einem der vielen Zwischenfälle: Er strolchte durchs Haus, war schrecklich unruhig; ich fragte ihn mehrmals, was los sei, und seltsamerweise hat er mich an den Schultern gepackt. Er hat mir direkt in die Augen geschaut wie noch nie, hat den Mund aufgerissen und einen Schrei losgelassen, der klang, als hätte er sich seit Tagen angebahnt. Mir war, als hätte er gesagt und als hätte ich es wirklich gehört: Ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht, ich schaffe es nicht…
Das weckte in mir Bilder aus der Vergangenheit: ein Unfall, das Motorrad, das einen Satz macht, und dann Andreas Schrei, irgendwo am Boden, vor mir, Leute, die herbeirennen und mir die Sicht verdecken, das rechte Bein ganz verdreht, das Morphium, »der Junge ist autistisch«, zwei Ambulanzen, »lasst uns zusammen«, dann zwei Krankenhausbetten nebeneinander. Wir sind durchgekommen, aber dieser gellende Schrei von Andrea taucht ab und zu in meinen Träumen wieder auf, vielleicht war es nicht einmal Schmerz, vielleicht war es diese seltsame Welt, in der er lebt und die sich so eine Stimme verschafft. Irgendetwas schrie nach Freiheit, kam im Hals und in der Lunge kratzend heraus.
Ich stand auf, schaltete den Fernseher an und wieder aus, drehte ein bisschen am Radio herum. Dann öffnete ich das Schränkchen, in dem ich die Straßenkarten und Reiseführer aufbewahre. Auf dem Teppich breitete ich eine längst überholte Weltkarte aus, löschte im Kopf die alten Grenzen und zog sie neu: Kroatien, Slowakei, Mazedonien, Moldawien…
Am nächsten Morgen war Andrea schon sehr früh auf. Im Schlafanzug lief er um den Tisch herum, strich am Sofa entlang, kontrollierte das Wohnzimmerfenster. Ich suchte vergeblich nach meinen Pantoffeln. Dann fand ich sie wie schon öfter unter dem Stuhl im Arbeitszimmer, sorgsam parallel zueinander gestellt. Barfuß trat ich auf ein Papierfetzchen, dann noch eins, bis ich auf dem Tisch ein Häufchen winziger Schnitzel sah – das war alles, was von meiner alten Landkarte noch übrig war. Unendlich kleine Stückchen von Welt, die im Recyclingpapier enden würden.
»Andre, Andre«, murmelte ich. Ich konnte ihm nicht böse sein.
Er hatte diesen leicht schwermütigen Blick. Macht nichts, die Welt ändert sich ja ständig, und außerdem hätte ich es mir denken können: Zeitungen und Illustrierte wurden schließlich auch zerkleinert. Andrea arbeitet mit beneidenswerter Präzision, als streute er Wortkrümel für unsichtbare Rotkehlchen, die in unserer Wohnung herumfliegen.
In einem Monat endet das Schuljahr, die Ferien beginnen. Meine Freunde werden ihre Kinder ins Sommerlager schicken, bestimmt gibt es ein Angebot für eine schöne Wanderwoche in der Toskana, oder sie werden sie zu den Großeltern bringen, sie mit zum Zelten nehmen oder sie den ganzen Tag draußen Fußball spielen lassen. Recht so, Kinder müssen auch mal abschalten und sich austoben können.
Ich dagegen werde die üblichen Probleme haben: Wer bleibt wann und wo bei Andrea? Was soll er in der Zeit tun? Ist dies oder jenes das Richtige für ihn? Komplizierte Schichten, damit keine Lücken entstehen, akrobatische Absprachen, um bis September durchzukommen.
Man wird es leid, ob man will oder nicht.
Jedes Mal, wenn Schwierigkeiten auftauchen, jedes Mal, wenn du die Ärmel hochkrempelst, um sie zu lösen, ist es, als würdest du für teures Geld eine Fahrkarte erstehen, die nur bis zur nächsten Haltestelle gilt.
Nein, dieses Mal wird alles anders. Wenn ich mich schon derart anstrengen
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