Wenn ich dich umarme, hab keine Angst: Die wahre Geschichte von Franco und Andrea Antonello erzählt von Fulvio Ervas (German Edition)
Abreisedatum festgelegt: Mit dem 6. Juli sollte eine neue Zeitrechnung beginnen. Noch lieber wäre ich am 4. Juli gestartet, am Tag der Unabhängigkeit, aber das war nicht möglich. Deshalb ging es erst nach Erlangung der Unabhängigkeit los, was vielleicht auch sicherer ist.
»Eine Reise? Auf keinen Fall!«, haben die Lehrer und die Eltern von Andreas Schulkameraden sofort gesagt, Autisten fühlen sich nur in geregelten Verhältnissen wohl, sie leben gern in ihren gewohnten Bahnen, ertragen keine Veränderungen et cetera et cetera. Was hätte ich anderes erwarten können? Ich konnte diese Reaktionen durchaus nachvollziehen, vielleicht war ich ja wirklich zu unvernünftig. Um noch eine zweite Meinung einzuholen, ging ich zu den Ärzten, die Andrea behandelten, aber ich bekam dieselben Bedenken zu hören.
»Also wäre es besser, ich würde mit ihm zu Hause bleiben?«
»Na ja, zu Hause… Machen Sie doch einfach einen Erholungsurlaub hier in Italien. Es gibt doch genug schöne Ferienorte bei uns.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich, doch so eine Frage überfordert offenbar die Ärzte.
»Jesolo.«
»Der Strand ist immer überfüllt…«
»Dann fahren Sie eben ins Gebirge.«
»Und wohin, meinen Sie?«
»In die Dolomiten…«
Ich sah sie an, die Doktoren. Selbstverständlich mit Respekt. Doch ohne zu vergessen, dass Andreas Körper von Kuren aller Art gezeichnet ist. Dass wir zu diesem Zweck schon in alle Richtungen mit ihm gereist sind. Viele Kilometer weit weg von zu Haus: Mailand, Genua, Schweiz, Modena, Bologna, Siena, hektische Fahrten nach Apulien… Andrea hat schon die halbe Welt kennengelernt durch seine Behandlungen: deutsche, amerikanische, französische Ansätze. Schulmedizin, alternative Heilmethoden, spirituelle Praktiken. Immer hatten wir Vertrauen und nahmen Anregungen, Ratschläge und Hilfe an. Vorurteilslos. Wir schauten nach vorn. Jetzt fassen wir mal eine andere Art von Kur ins Auge. Ich bin überzeugt, dass sie funktioniert. Drei Monate lang werden wir frei sein.
Die engsten Freunde haben sofort begriffen, dass es mir nicht um Ferien, sondern um Freiheit ging.
»Aber was machst du dort?«
»Die blaue Raupe suchen.«
Sie wussten, dass Andrea genau zu der Zeit, als uns die Diagnose mitgeteilt wurde, sein Lieblingskuscheltier verloren hatte: eine blaue Raupe. Auch ich mag diese kleinen biegsamen Tiere, ihre Farben, ihre Hartnäckigkeit, ihre Gefräßigkeit, wie sie an Blatträndern und auf dünnen Stielen balancieren, wie sie im Leeren hängen oder auf der Erde herumkriechen.
»Ja meinst du, ihr findet sie wieder, die blaue Raupe?«
»Wir probieren es.«
Ganz verblüfft wollten sie dann jeweils wissen, wo, wie und wann.
Ich stellte mir die ersten Etappen unserer Route vor. Quer durch Amerika, von einer Küste zur anderen, auf dem Motorrad, dann weit hinunter in den Süden oder vielleicht auch nordwärts, wer weiß?
Die Rückreise allerdings konnte ich mir noch gar nicht vorstellen, als könnte Andrea mich zwingen, für immer unterwegs zu sein.
Ein paar Ängste kamen hoch. Und was für welche.
An einem Regentag, an dem Andrea sehr unruhig gewesen war, lag ich auf dem Bett. Ich fand, es sei an der Zeit, dass wir ein Gefühl für die Reise entwickelten, nur mit Geschwätz kommt man nirgendwohin. Ich nahm Andrea beiseite und sagte: »Wir müssen ein bisschen für unsere Reise trainieren.«
»Die Reise, Papa.«
»Bist du bereit?«
»Ja.«
»Wirst du mich nicht zur Verzweiflung treiben?«
»Bleib immer ganz ruhig.«
Wir begannen, lange Touren auf unserem Motorrad zu unternehmen, ich sagte: »Halt dich fest, als ob du in Amerika wärst, in Amerika muss man sich nämlich ordentlich festhalten, da gibt es Orkane und Wirbelstürme!«, und Andrea erdrückte mich fast mit seiner Kraft. Wir fuhren schöne Strecken, Andrea brav an mir festgeklammert, ich fühlte, wie aufmerksam er war, keine Bewegung entging ihm, und wie immer übersah er keinen einzigen Wegweiser. Wo geht es lang, Andre? Hier, bis ganz ans Ende, Papa. Sicher und präzise wie ein Navigationssystem. Aufsteigen, absteigen, an der Tankstelle anhalten, tanken, etwas essen, denn die hiesigen Tankstellen wollen ja so amerikanisch wie möglich sein und du kannst den ganzen Vormittag dort frühstücken oder auch zum Aperitif kommen. Wir fuhren ein Stück in die Berge hinauf. »Setz bitte immer den Helm auf!« Ich werde es trotzdem kontrollieren müssen, weil er ihn nie zumacht. Manchmal raste Andrea sofort nach dem Absteigen
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