Wenn Licht die Nacht durchdringt: (Teil 2) (German Edition)
sich selbst. Wie konnte das sein, wenn er tot war? Er war doch tot? Oder nicht? Keine Geräusche um ihn herum – oder nahm er sie lediglich nicht wahr? Sollte er sich fürchten, die Augen zu öffnen? Musste sich ein Toter noch fürchten?
„Still hier, nicht? Irgendwann ist selbst diese Stille laut. So laut, dass man es nicht mehr ertragen kann.“ Eine Stimme. Ein Jemand. Ganz nahe. Hier. Bei ihm. Nicht Gwen. Nicht Marah oder Jonathan.
Ob tot oder nicht, er existierte, dachte, fühlte und hörte, dass jemand bei ihm war. Wo auch immer dieses hier war, wo er sich befand. Langsam öffnete er die Augen und richtete sich auf. Er befand sich auf einem offenen gepflasterten Platz, inmitten von heruntergekommenen, zerfallenen Häusern, die aussahen, als wären sie schon vor langer Zeit verlassen worden. Ein dunkles Himmelszelt spannte sich über ihm. Der Geruch von Schwefel hing in der Luft. War er zuvor schon da gewesen? Ein Windhauch streifte seine Wange, der noch etwas anderem zu ihm wehte. Den Geruch von verbranntem … Fleisch?
Ruckartig brachte er sich auf die Beine und spähte unwillkürlich nach dem Messer in seiner Brust. Doch es war nicht da. Stattdessen gab es an jener Stelle lediglich eine Wunde, die nicht – oder nicht mehr – blutete, sein Shirt und seine Jacke rot befleckt hatte, aber so, als wäre das Blut bereits seit langer Zeit versiegt und eingedickt.
„Wir haben nicht viel Zeit.“ Wieder diese Stimme. Die Stimme einer Frau. Er suchte sie – und fand sie lediglich ein paar Schritte von ihm entfernt stehend. Sie war jung, vielleicht Anfang, Mitte dreißig. Ihre Kleidung war altmodisch – ein grünes Leinenkleid, das verschlissen und dreckig aussah. Ihr rotes Haar fiel ihr lockig bis zur Taille, wirkte verfilzt und angesengt. Die grünen Augen inmitten ihres mit Rußflecken versehenen Gesichts waren aufmerksam auf ihn gerichtet.
„Wofür haben wir nicht viel Zeit?“, fragte er.
„Dafür, uns zu vergeben – und dafür, alle anderen zu befreien.“
Er öffnete sprachlos den Mund, dann sammelte er sich wieder. „Bin ich tot? Wo bin ich hier? Und wer bist du?“
„Im Moment, bist du tot.“
Er schloss die Augen und gab ein spöttisches als auch wehmütiges Schnauben von sich. „Wenn ich jetzt tot bin, dann bin ich es auch später, morgen, übermorgen … für
immer
.“
„Normalerweise würde ich dir rechtgeben. Allerdings gibt es eine Person, die nicht zulassen wird, dass du tot bist. Die alles versuchen wird, dich zurückzubringen. Und ehe ihr das gelungen ist, solltest du – sollten wir – bereit sein.“„
Wozu
?“
Sie verzog den Mundwinkel zu einem Lächeln. „Du hast bereits von mir gehört, hast von mir gesprochen. Von der Hexe, die die Mitschöpferin deiner Rasse sein soll. Einer Hexe namens Lilith. Ich bin Lilith.“
Er sah sie ungläubig an. „Du bist tot. Seit langer Zeit. Wie kann ich mich mir unterhalten? Oder ist das so bei Toten? Wie kannst du hier sein? Wo ist
hier
eigentlich?“
„Dies“, sie breitete die Hände aus, „ist meine eigens kreierte Hölle. Eine verlassene, einsame Stadt. Eine Geisterstadt, könnte man sagen. Ewige Nacht. Immer wieder führt mich ein Weg dorthin: zum Schauplatz meines eigenen Todes.“ Sie deutete mit der Hand auf eine Empore, von der er nicht sagen konnte, ob sie zuvor schon dagewesen war. „Du kannst es riechen, nehme ich an. Den Schwefel, den Geruch von Verbranntem. Er kommt von einer Hinrichtung. Der Hinrichtung meiner Schwester und ihrer Tochter. Der Hinrichtung meiner Tochter und mir. Immer wieder muss ich es mitansehen und durchleben. Ich bin hier gefangen, weil ich mich hier eingesperrt habe.“
„Warum?“, fragte er mit gerunzelter Stirn. „Wenn du dich hier eingesperrt hast, warum befreist du dich dann nicht einfach?“
„Weil es das ist, was ich verdiene. Das, was ich glaube, zu verdienen“, erwiderte sie nüchtern. Ein Funkeln stahl sich in ihre Augen. „Und weil du, Nikolaj, weißt, was ich damit meine, was es bedeutet, bist du hier bei mir.“
Er konnte nur schwer atmen, als er ihre Worte in sich aufnahm. Vergaß den Gedanken, ob er überhaupt atmen musste, wenn er tot war; ob er wirklich atmete oder nur so tat.
Lilith kam auf ihn zu. Einen entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht, der ihr ein Alter von unendlicher Zeit überstülpte. „Es ist Zeit uns aus unserer eigenen Hölle zu befreien, Nikolaj. Uns unsere Sünden zu vergeben, die Gnade und Vergebung, die wir anderen zugestehen auch über uns selbst walten zu
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