Wenn nicht jetzt, wann dann?
Der Schuhschrank musste sich woanders befinden. Aber es wäre ihr unangenehm gewesen, ihn nun überall zu suchen. Sie stellte die Schuhe ordentlich nebeneinander an die Seite, nahm die halbvolle Kaffeetasse, die noch auf der Kommode stand, und ging in die Küche, um sie auszuspülen. Die leere Milchtüte auf dem Tisch warf sie in den Müll, wischte mal eben über die Arbeitsplatte, wo eine ganze Ladung Kaffeepulver verschüttet war, und sah sich nach der flachen grünen Schale um. Liz hatte sie gebeten, darin nach dem Schlüssel zu schauen. Und falls sie ihn dort nicht finden sollte, dann gäbe es noch eine Schale im Wohnzimmer, wo sie alles Mögliche sammelte. Aber die Schale in der Küche erwies sich gleich als die richtige. Unter Aspirinschachteln, Weinkorken, Armbändchen, einer Packung Muskatnüsse und einer angebrochenen Tafel Schokolade kam der Schlüssel zum Vorschein. Annemie hätte hier am liebsten erst einmal richtig aufgeräumt. Das konnte sie wenigstens. Hätte Liz sie doch nur gebeten, ihre Wohnung aufzuräumen! Das wäre ihr so viel leichter gefallen, als in den Hochzeitsladen zu gehen und einem Juwelier zu begegnen, dem sie ausrichten müsste, dass Liz im Krankenhaus liege, den sie fragen solle, ob sie schon Wünsche und Vorstellungen notieren könne, und den Rest, den konnte sie sich sowieso nicht merken. Einen freundlichen, kompetenten Eindruck sollte sie dabei aber bitte auch noch vermitteln. Liz hatte so verzweifelt geklungen, dass ihr viel daran liegen musste. Das machte die ganze Sache noch schlimmer. Ihr graute davor. Sie hatte in solchen Dingen wirklich keinerlei Übung.
Annemie verließ ihre Wohnung nur selten. Die ganze Welt war ihr viel zu schnell und unordentlich, viel zu unübersichtlich und laut geworden. Irgendwie hatte sie das Gefühl, in den letzten Jahren den Anschluss verpasst zu haben. Plötzlich rannten alle mit Handys am Ohr umher und achteten überhaupt nicht mehr darauf, wen sie beim Telefonieren umrannten, keiner wartete mehr bei Rot, Fahrradfahrer schossen aus allen Richtungen unvermittelt auf einen zu, von überall her dröhnten Geräusche und Musik, Läden, die sie ihr Leben lang gekannt hatte, verschwanden, stattdessen kamen immer neue, immer buntere Geschäfte, in denen sie nie das fand, was sie suchte. Deshalb ging sie nur alle zwei, drei Tage zu dem kleinen Edekaladen an der unteren Ecke ihrer Straße und von da weiter zu den Geschäften des kleinen Einkaufsviertels ihrer Nachbarschaft. Da fand sie alles, was sie brauchte. Ab und zu ließ sich eine Fahrt in die Stadt nicht vermeiden, um neue Backformen oder besondere Zutaten zu besorgen. Aber dabei blieb es dann auch. Nach diesen seltenen Ausflügen in die Stadt war sie stets richtiggehend erschöpft und froh, wenn sie wieder in ihren eigenen vier Wänden war und nicht mehr mit fremden Menschen sprechen musste. Manchmal hatte sie das Gefühl, sich selbst ganz fremd zu sein, wenn sie mit anderen sprach. So als ob das gar nicht sie selbst sei, die da antwortete, sondern jemand anders, den sie im Grunde gar nicht sonderlich gut kannte, und deshalb blieb sie immer verunsichert, ob dieser Jemand auch das Richtige antworten würde.
Heute stand ihr ein Ausflug bevor, der sie besonders verunsicherte. Sehnsüchtig schaute sie zu dem Schrank, in dem sie ihre Backutensilien aufbewahrte. Wie gerne würde sie einfach hierbleiben und etwas backen. Wenn sie beobachtete, wie der Teig allmählich die richtige Konsistenz bekam, wenn es nach frischer Butter roch oder nach karamellisierendem Zucker, wenn dunkle Schokolade sämig vom Löffel tropfte, dann war Annemie glücklich. Doch jetzt hatte sie eine andere Aufgabe. Sie seufzte. Für Liz würde sie sich zusammenreißen und es schaffen.
Seit Liz neben ihr eingezogen war, hatte sich Annemies Alltag sehr deutlich zum Besseren verändert. Es gab in ihrem Leben nun drei Dinge, auf die sie sich freute und die sie glücklich machten. Das Erste war das Backen. Das Zweite war das Lesen. Einmal pro Woche tauschte sie mit ihrer Freundin Waltraud, die im Edekaladen an der Kasse saß, Liebesromane aus, die sie beide mit großer Wonne verschlangen. Je dicker die Romane waren, desto lieber lasen sie die Bücher, die ihnen für etliche Stunden kleine, herzerwärmende Fluchten aus ihrem Alltag gewährten. Während Annemie besonders die Bücher mochte, auf denen Frauen in hochgeschlossenen langen Kleidern in Rosengärten geküsst wurden, lagen Waltrauds Vorlieben eher bei den tief dekolletierten
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