Wenn nicht jetzt, wann dann?
einzuhüllen, und sie versuchte doppelt so schnell zu sprechen, um noch alle wichtigen Informationen loszuwerden. Vor allem an die Petit Fours sollte sie denken. Unbedingt. Dringend. Und dann verlor Liz den Faden, und die Schwester nahm ihr den Hörer aus der Hand und legte ihn auf ihren Nachttisch.
»So, und jetzt schlafen Sie mal schön und machen sich keine Sorgen. Das wird schon.«
Die Schwester wusste zwar nicht, warum Petit Fours so dringend sein könnten, dass ihre Patientin beinahe noch mal in Tränen ausgebrochen wäre, aber man steckte eben nicht in der Haut von anderen. Außerdem stand das Mädel sicher unter Schock. Und wer konnte schon wissen, was dieser Herr Winter wohl für einer war und warum er unbedingt Petit Fours brauchte. Das waren doch diese klebrigen, süßen, kleinen, bunten Würfel. Sie dachte bei Petit Fours immer an ältliche, fast lila gelockte Tanten, die es heute eigentlich fast gar nicht mehr gab. Die Sorte, die ohne Handschuhe das Haus nicht verließ und mit Handtasche auf dem Schoß im Café ein Kännchen Hag bestellte. Und dazu Petit Fours.
Annemie Hummel goss sich auf diesen Schrecken erst einmal ein kleines Gläschen Kirschlikör ein. Kirschlikör hatte Annemie immer im Haus, weil er so schön süß war und nicht so furchtbar nach Alkohol schmeckte wie andere alkoholische Getränke, aber trotzdem ein bisschen beruhigte. Von innen. Von der Magengegend her, die stets am meisten zitterte, wenn sie aufgeregt war. Außerdem mochte sie die dunkelrote Farbe. Allein das tiefrote Glas anzuschauen erzeugte bei ihr eine gewisse innere Zufriedenheit. Das erste Gläschen trank sie ziemlich schnell, damit es rasch in besagter Magengegend seine wohltuende Wirkung entfalten konnte, und mit dem zweiten Gläschen setzte sie sich in den Sessel, in dem Rolf immer gesessen hatte, und dachte nach. Jetzt hatte sich das innere Flattern zwar etwas beruhigt, aber sie hatte dennoch keine Ahnung, was sie machen sollte. Sie konnte doch nicht einfach jemanden vertreten. Vor allem nicht morgen. Sie konnte doch gar nichts! Was sollte sie bloß tun? Sie nippte noch einmal an ihrem Gläschen und blickte aus dem Fenster hinaus in die nächtliche Dunkelheit, die genauso ratlos zurückschaute.
Annemie hatte viele Eigenschaften. Zum Beispiel war sie sehr hilfsbereit, sie war pflichtbewusst und zuverlässig. Doch eines war sie ganz gewiss nicht: spontan. Spontaneität war nichts, das Annemie in ihrem in stets geregelten Bahnen verlaufenen Leben je gefehlt hätte. Sie glaubte nicht an Veränderung. Annemie hielt Routine, Wiederholung und Ordnung für segensreicher als Veränderung, Abwechslung und Durcheinander. Wenn es
in ihrem Leben Veränderung gegeben hatte, dann hatte es nicht immer zu einer Verbesserung ihrer Lebensumstände geführt. Sie hegte deshalb allem Neuen gegenüber eine große Skepsis, es war ihr einfach lieber, am Bewährten festzuhalten. Es erfüllte sie mit Zufriedenheit, wenn ihre Geschirrtücher sorgfältig gebügelt und auf Kante gefaltet im Schrank lagen, wenn ihre Blusen auf Polsterbügeln hingen, das Besteck in der Schublade ordentlich aufgereiht war, und die Fransen an ihrem Teppichläufer frisch gebürstet in eine Richtung zeigten. Es erfüllte sie mit tiefer Zufriedenheit, wenn sie wusste, was in einer Stunde oder in vier Stunden, morgen oder übermorgen geschehen würde. Unbekanntes machte ihr Angst. Wie eine Schnecke, deren Fühler man berührt, zog sie sich rasch in ihr Schneckenhaus zurück und dachte nicht im Traum daran, so etwas wie Spannung oder Vorfreude zu empfinden.
Annemie lebte seit zweiundvierzig Jahren in der Spohrstraße Nr. 11 . Seit ihr Rolf sie damals mit Schwung über die Schwelle getragen hatte, in ihre Dreizimmerwohnung mit Balkon und orangebraunen Streifentapeten, hatte sich nur sehr wenig verändert. Die Tapeten hatten nun dezentere Muster als damals, und die kaputten Elektrogeräte waren durch neue ersetzt worden, aber Rolf war, selbst als er noch lebte, nicht mehr auf die Idee gekommen, seine Annemie irgendwohin zu tragen. Von Schwung ganz zu schweigen. In ihrer Wohnung war ansonsten zweiundvierzig Jahre lang nichts verändert worden. Warum sollte sie ihre Einbauküche, die einmal sehr schick und zudem teuer gewesen war, durch eine neue ersetzen? Und die Polstergarnitur im Wohnzimmer war auch noch gut. Nach Rolfs Tod hatte sie selbst im Schlafzimmer nichts verändert. Es wäre ihr seltsam erschienen, das Doppelbett zu teilen oder gar ein kleines Einzelbett in
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