Wenn nicht jetzt, wann dann?
gerade zum Understatement neigte, gefallen könnte.
Das Juweliergeschäft, das ihr Urgroßvater Emil Winter vor über hundert Jahren gegründet hatte, konnte in der Kaiserzeit stark florieren, nicht zuletzt, weil die Kaiserin sich dort während ihrer Kuraufenthalte so manches Schmuckstück hatte anfertigen lassen, was sowohl der russische Adel als auch der heimische Geldadel zur Freude des Winter’schen Betriebes gerne nachahmten. Ihr Großvater und Vater hatten es weitergeführt, und nun war es an Nina, das Geschäft in den nächsten Jahren zu übernehmen. Die Verbindung mit Fabian war in dieser Hinsicht einfach ideal, denn Nina hatte zwar kaufmännisches Talent, aber sie machte sich überhaupt nichts aus Schmuck, und das Goldschmiedehandwerk hatte sie noch nie interessiert. Sie schätzte diese Kunst, und aus Traditionsbewusstsein heraus würdigte sie das Können einzelner Goldschmiede durchaus, schließlich hatte ihre Familie es deshalb zu etwas gebracht. Aber sie hätte niemals die Geduld aufbringen können, mit diesen Miniaturgeräten und hinter Brillen und Lupen versteckt Metalle so zu verarbeiten, dass ein Schmuckstück dabei herauskam. Sie selbst trug auch selten Schmuck. Ein paar goldene Ohrstecker, in denen kleine Aquamarine funkelten, das war eigentlich alles. Nina war eher der sportliche Typ, und während viele ihrer Freundinnen sie beneideten, dass sie bei Gesellschaften einfach irgendeinen tollen Schmuck aus dem Laden ausführen durfte, empfand Nina selbst das sogar als lästig. Da Goldschmiedin für sie deshalb als Berufsfeld ausfiel, hatte sie sich entschlossen, wie ihr Vater den kaufmännischen Weg einzuschlagen, den Laden zu führen und sich, was die Schmuckherstellung und den Einkauf der Bestände betraf, lieber an ihren Lieblingsgoldschmied Fabian zu halten. Zusammen, da war sie sich sicher, würden sie ein hervorragendes Team abgeben.
Nach dem Telefonat ging Nina hinunter, um ihren Vater zu suchen. Sie bewohnten eine kleine Gartenvilla aus der Gründerzeit, die Urgroßvater Winter vor über hundert Jahren gebaut hatte. Wobei »klein« eine sehr relative Angabe war. Im unteren Geschoss befanden sich die Gesellschaftsräume, eine Eingangshalle, am Ende eine Küche. Daran grenzte ein privates kleines Esszimmer, in dem Nina und ihr Vater gewöhnlich aßen, wenn sie alleine waren, und gegenüber lag noch der größere Speisesaal, in dem mit Gästen diniert wurde. Dazwischen gab es zwei Wohnzimmer. Ein gemütliches und ein repräsentatives. Im ersten Stock hatte ihr Vater sein Reich, zu dem sein Schlaf- und Ankleidezimmer, sein Arbeitszimmer, eine Bibliothek und ein Bad gehörten. Ein Stockwerk darüber lagen Ninas Räume und ganz oben unterm Dach standen noch verschiedene Gästezimmer zur Verfügung. Es war völliger Unsinn, dass das junge Paar auszog und den Vater alleine in der großen Villa wohnen ließ. Obwohl Fabian noch seine eigene Wohnung hielt, wohnten sie praktisch schon gemeinsam dort in Ninas Stockwerk. Sie hatten überlegt, einen Architekten zu Rate zu ziehen, wie man unter Einbeziehung des Dachgeschosses noch eine Küche, eine Werkstatt für Fabian und eventuelle Kinderzimmer unterbringen könnte. Aber die Pläne waren noch nicht weit gediehen, es gab meistens irgendetwas, das dringender schien. Wenn Nina ehrlich war, dachte sie immer wieder darüber nach, ob sie nicht vielleicht doch ein eigenes Haus haben könnten. Etwas Modernes, Helles. Stein, Holz, Glas. Auch in dieser Frage war Fabians Wille so wenig ausgeprägt, dass es sie manchmal irritierte, selbst wenn er stets gute Gründe dafür hatte.
»Von welchem Leben träumst du? Wie sollen wir wohnen?« Das hatte sie ihn erst vor ein paar Tagen gefragt.
»Natürlich wäre ein eigenes Haus toll«, hatte er geantwortet. »Aber weil ich es nicht selbst bezahle, kann ich doch nicht einfach sagen, ja, ich will ein Haus! Gleichzeitig lassen wir deinen Vater dann alleine in diesem Riesenhaus sitzen. Und ich weiß nicht, ob du das überhaupt willst.«
In dieser Frage kamen sie nicht wirklich weiter. So zielstrebig und entschieden Nina sonst immer war, in diesem Punkt war sie unsicher, auch wenn sie das noch nicht einmal vor sich selbst zugeben würde. Gleich neben der Sehnsucht, ihr Elternhaus zu verlassen, machte sich in ihr ab und zu eine Verunsicherung breit, die sie sofort mit dem Argument beschwichtigte, dass sie ihren Vater nicht alleine lassen könne. Er hatte so viel für sie getan, sie konnte doch jetzt nicht einfach ausziehen.
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