Wenn nicht jetzt, wann dann?
ist, dann soll sie noch mal drüber schlafen und gut ist. Haben Sie denn so wenig Vorstellungskraft?!«
Liz war außer sich und redete sich richtiggehend in Rage, Annemie kam überhaupt nicht mehr zu Wort. Liz’ ganzer Frust über Simon, über ihr Bein, über ihre Hilflosigkeit und den geplatzten Winter-Auftrag prasselte auf Annemie nieder, die sich nach der enttäuschenden Begegnung mit Hannes gerade wieder so weit berappelt hatte, dass sie das Gefühl hatte, aufrecht stehen zu können. Wenn auch nicht viel mehr. Unter Liz’ aufgebrachter Tirade sank Annemie endgültig in sich zusammen, sie brachte kein Wort zu ihrer Verteidigung heraus. Völlig hilflos verstummte sie und hörte gar nicht mehr, was Liz eigentlich sagte. Die Worte rauschten durch sie hindurch, blieben irgendwo in ihr hängen, ohne dass sie sie wirklich verstand.
»… genau die Richtige gefragt … Bock zum Gärtner gemacht … weil Ihr Leben einsam und traurig ist, können andere trotzdem heiraten und glücklich sein …« Annemie sah die wütende, schimpfende Liz wie betäubt an, dann nahm sie ihre Tasche, die auf einem der Stühle lag, steckte den Schal ein, den Nina Winter ihr geschenkt hatte, und ging.
Wie betäubt stieg sie in den Bus, der sie nach Hause fuhr. Sie stieg automatisch an der richtigen Haltestelle aus und kramte kurz vor ihrer Haustür in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Als sie stehen blieb, sah sie, dass die letzte Nacht wohl sehr kalt gewesen sein musste. Denn auf der Stufe zu ihrer Haustür lagen zwei tote Hummeln. Zwei kleine dunkle Pelzchen, die sich nie mehr regen würden zu ihrem schwerfälligen Frühjahrsflug. Traurig beugte Annemie sich herab und hob sie vorsichtig auf, um den kleinen erstarrten Pelzchen einen Platz unter der Linde vor ihrem Haus zu geben.
In ihrer Wohnung ging Annemie gleich in die Küche, wo sie alle Backutensilien in den Müll warf. Alle Marzipanrosen und alle Fondantplatten, alle Liebesperlen, alle Zuckerherzen, alle Zuckerfarben, ihre gesamte Kuvertüre und alles, was sie in ihrem Vorratsschrank stehen hatte, was auch nur im weitesten Sinne mit Backen zu tun hatte. Hinterher wischte sie das Regalbrett fein säuberlich aus, damit jeder Zuckerrest und jedes Mehlstäubchen beseitigt war und sie nichts, aber auch gar nichts mehr nur im Entferntesten an Hochzeitstorten erinnerte. Danach packte sie eine Tüte für Waltraud, in die sie die letzten Liebesromane steckte, die sie auch nie wieder brauchen würde, und legte sie auf die Garderobenablage neben der Wohnungstür.
Dann hüllte sie sich in das blaue weiche Wolltuch, das Nina ihr geschenkt hatte, und starrte ihren Wandschrank an. Sie war unfähig, irgendetwas zu tun. Sie konnte sich nicht dazu aufraffen, die Teppichfransen zu ordnen, die ganz durcheinandergeraten waren. Sie konnte noch nicht einmal mehr geradlinig denken.
Nina verstummte und sah zu ihrem Vater, der, während sie ihm alles erzählte, aufgestanden war und aus dem Fenster geschaut hatte. Sie hatte sein Gesicht nicht sehen können, und sein schweigsamer Rücken hatte ihr nichts verraten. Er stand noch immer vor dem Fenster und schaute hinaus. Was würde er jetzt wohl antworten? Ob er böse sein würde, nein, das glaubte sie nicht, aber wahrscheinlich enttäuscht. Enttäuscht, dass sie nicht heiratete, dass diese gute Verbindung für den Betrieb nicht eingegangen wurde, das glaubte sie am ehesten. Doch am meisten fürchtete sie sich davor, dass er sie bitten würde, ihn jetzt nicht mit allem alleine zu lassen, in der Firma, in dem großen Haus, und dass er sie bitten würde, nicht zu reisen. Die dunkle Silhouette ihres Vaters, die sich vor dem Fenster abzeichnete, bewegte sich noch immer nicht, und Nina wurde nervös.
»Papa …?«
Claus Winter drehte sich langsam zu ihr um.
»Verzeih bitte, Nina, das war jetzt etwas viel auf einmal, das muss ein alter Mann wie ich erst einmal verdauen.«
Nina erkannte, dass er müde aussah. Müder als zu Beginn des Gesprächs, in dem sie ihm eröffnet hatte, dass sie Fabian nicht heiraten würde, dass sie die Hochzeit bereits abgesagt hatte und dass es ihr Traum sei, durch die Welt zu reisen.
»Ich glaube, ich merke gerade, dass ich viel falsch gemacht habe.«
»Aber Papa, das hat doch mit dir gar nichts zu …«
»Doch«, unterbrach er sie. »Doch, das hat es.«
Er ging ein paar Schritte auf sie zu und setzte sich wieder ihr gegenüber hin.
»Du hast mir geholfen, den Tod deiner Mutter zu verkraften, und ich habe dir bestimmt
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