Wenn nicht jetzt, wann dann?
wenige Kurven später waren die Schmerzen viel weniger spitz und ihr gesamtes Denken fühlte sich weicher an, schwerer, ihre Wut löste sich in dumpfe Wolken auf, die sich wie ein Nebel um sie herum senkten, und sie hatte Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Träumte sie, dass sie jetzt gerade ins Krankenhaus fuhren, dass die Türen sich öffneten und sie schaukelnd aus dem Inneren des Wagens herausgerollt wurde? Sah sie tatsächlich den Himmel, der sich schon in einem dunkleren Blau färbte, und hörte sie tatsächlich diese Amsel in den Abendhimmel hinein singen, oder bildete sie sich das alles nur ein? Liz wusste noch, dass ein Arzt nach ihr gesehen hatte, dass sie geröntgt wurde, dass zwei Menschen sich über Steiß und L 1 und L 2 und über eine komplizierte Unterschenkel-Fraktur unterhielten, aber sie war sich nicht sicher, um wessen Steiß es hier ging und um welchen Unterschenkel, und es war ihr auch alles egal.
Später hörte sie eine freundliche Stimme, die jemanden fragte, ob man Angehörige für sie benachrichtigen solle. Sie wunderte sich, dass anscheinend niemand auf diese oft und laut und deutlich wiederholte Frage antwortete, bis sie auf die Idee kam, dass ja vielleicht sie gemeint sein könne. »Ich?«, krächzte sie mit einem verwunderten Ton und fand, dass ihre Stimme so klang, als ob sie gar nicht zu ihr gehörte.
»Wartet jemand auf Sie? Macht sich jemand Sorgen, weil Sie nicht nach Hause kommen? Gibt es eine Nummer, die wir anrufen können?«
Das waren viele Fragen auf einmal, und Liz brauchte eine Weile, bis sie in diesem Nebel, der in ihrem Kopf herrschte, alles geordnet hatte. Niemand machte sich Sorgen, wenn sie nicht nach Hause kam. Sie lebte alleine. Sie wollte jetzt auch nicht, dass sich jemand anders Sorgen machte. Ihre Schwester oder ihre Mutter brauchten heute nicht von diesem dummen Unfall zu erfahren, denn morgen war doch alles wieder gut.
»Morgen ist doch alles wieder gut?«, fragte Liz und dachte, dass da etwas gewesen war, an das sie sich unbedingt erinnern musste, morgen war etwas wirklich Wichtiges gewesen.
»Junge Frau, stellen Sie sich mal drauf ein, dass wir Sie eine Weile hierbehalten müssen. Und ob das von alleine besser wird oder ob wir operieren, das wird morgen der Doktor entscheiden.«
Und in diesem Moment fiel ihr alles wieder ein. Herr Winter. Und seine Tochter Nina.
»Ich muss morgen aber arbeiten«, rief Liz. »Ich muss in den Laden. Ich habe extra Hyazinthen gekauft, ich habe morgen den wichtigsten Termin, den allerwichtigsten …«
Für einen Moment war es so, als ob der Nebel in ihrem Denken aufriss und sie ganz klar erkennen konnte, in welch einem Schlamassel sie saß. Oder vielmehr: lag. Da hatte sie morgen endlich die Chance, ein Entree zu den besseren Kreisen zu bekommen, der Moment, auf den sie immer gehofft hatte, eine richtig große Hochzeit, Geld, Champagnerzelte, Journalisten, und da lag sie wie ein Käfer hilflos auf dem Rücken im Krankenhaus. Sie spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen schossen und ein Schluchzen in ihr aufstieg. War das alles ungerecht.
»Kann Sie denn jemand vertreten?«, fragte die nette Stimme, und als Liz verzweifelt den Kopf schüttelte, mahnte die Schwester sie, jetzt mal nicht gleich zu verzweifeln.
»Es gibt immer eine Lösung. Haben Sie Bekannte, die mal einspringen können?«
Liz schüttelte wieder den Kopf. »Die arbeiten alle selbst.«
»Schütteln Sie lieber nicht den Kopf. Am besten liegen Sie ganz still.«
Und da spürte Liz auch schon, warum sie besser ganz still liegen sollte. Jede kleinste Drehung ihres Halses setzte sich schmerzhaft über den ganzen Rücken bis zu ihrem Steißbein fort. Wahrscheinlich war der Steiß, von dem vorhin die Rede gewesen war, doch der ihrige gewesen.
»Na, wer wird denn da weinen, gibt es nicht Mitarbeiter, die für Sie übernehmen könnten?«
Die nette Schwester tupfte ihr die Tränen aus dem Gesicht, die direkt hinter ihre Halskrause flossen. Liz wollte gerade sagen, dass sie ganz allein sei, ganz und gar allein, da kam ihr ein Gedanke. Es war nicht optimal, es war wirklich nur eine Notlösung, eine absolute Notlösung. Aber es war besser als nichts.
Die Schwester holte das Telefon, wählte für sie die Nummer, und dann hörte Liz ein erstauntes »Hallo« am anderen Ende, und sie versuchte Frau Hummel klarzumachen, um was es morgen ging. Während des kurzen Gesprächs spürte Liz, wie die Nebelwolken sich wieder zusammenzogen, um sie in dichte Schwaden
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