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Wenn Tote schwarze Füße tragen

Wenn Tote schwarze Füße tragen

Titel: Wenn Tote schwarze Füße tragen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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in
Hemdsärmeln über dem wackligen Geländer und spuckt gleichgültig in das Wasser,
das unter ihm vorüberfließt. Als er mich erblickt, unterbricht er seine
philosophische Tätigkeit. Er ist schon recht alt und hat diesen typischen
Schnurrbart. Ein Hut, mit dem er offenbar vorher seinen Wohnwagen gefegt hat,
bedeckt mehr schlecht als recht seinen Kopf. Seine Augen haben einen merkwürdig
traurigen Ausdruck. Wie Hundeaugen. Ich winke dem Mann zu, doch er erwidert
meinen Gruß nicht. Wahrscheinlich ein Rassist, voller Verachtung für uns payos. Ich lasse ihn weiterspucken und gehe auf die andere Seite hinüber.
    Der Castelletsche Hof ist noch nicht
völlig zur Ruine verkommen, wie meine Tante behauptet hat — ein intakter Flügel
trotzt noch dem Mistral — , aber das Ganze ist dennoch so gut wie abbruchreif.
    Bevor ich über das halb verfallene
Mäuerchen springe, betrachte ich das Gelände, das in meiner Kindheit mein
Spielplatz war. Die Gitterstäbe des Tores, das mit einer verrosteten Kette
verschlossen ist; die Steinbank unter den Pinien, deren Zweige das Fenster meines
ehemaligen Kinderzimmers streicheln; der Garten, in dem mein Großvater Dahlien
züchtete und der jetzt wild zugewuchert ist; und etwas abseits der Brunnen, der
mir immer so groß vorgekommen ist, so tief, und der sich nun als ein ganz
gewöhnlicher Brunnen mit normalen Ausmaßen entpuppt, dessen Rand mit Glaskraut
übersät ist...
    Na, Nestor? Wieder zurück in Peter
Ibbetsons Garten, um Indianer zu spielen?
    Ich überspringe das Mäuerchen und
störe dadurch die Eidechsen in ihrer Siesta.
    Türen und Fensterläden sind
verriegelt, aber auf der Rückseite des Hauses steht ein Fenster offen. Sieht
aus, als wäre es aufgebrochen worden. Ich steige in das verlassene, feucht und
muffig riechende Haus ein. Im flackernden Schein vieler Streichhölzer
besichtige ich mehrere Zimmer, deren Möbel sich nicht mal mehr als Brennholz
eignen. Die staubbedeckten Holzfußböden wellen sich und knarren unter jedem
meiner Schritte. Ein einziger Raum steht völlig leer, nur eine schmutzige,
zerschlissene Matratze liegt in einer Ecke. Abdrücke auf dem staubigen Boden
zeugen davon, daß hier jemand herumgelaufen ist. Das solide Schloß in der
massiven Tür zum Flur ist aufgebrochen worden.
    Ich zünde mir eine Pfeife an und trete
hinaus in die frische Luft, in die warme Sonne, in den gesunden Wind. Ich gehe
um das Haus herum auf die Vorderseite.
    Der Zigeuner sitzt auf der Steinbank
unter den Pinien. Er steht auf und kommt grinsend auf mich zu.
    „Hough!“ stößt er heiser hervor, mehr
Indianer als Zigeuner. „Mujer, he? Pffuitt... weg!“
    Er macht eine Geste mit dem Arm, so
als wolle er davonfliegen. Er lacht, aber seine treuen Hundeaugen haben noch
denselben, merkwürdig traurigen Ausdruck.
    „ Mujer ?“ wiederhole ich. „Ach
so, ja... mujer... Frau... señorita... Fräulein?“
    „Si, si, si! Hahaha! Fraulein... un poco tonto,
amigo... pffuitt... weg!“
    Er zeigt mit seinem dreckigen
Fingernagel auf mich.
    „Du reingefallen, Du Blödmann... Du
Arschloch!“
    Na also, er spricht ja immerhin ein
paar Brocken Französisch! Beruhigend. Vielleicht kommen wir ins Gespräch.
    „Nein, nein“, sage ich. „Ich nicht
Arschloch, ich amigo der señorita!“
    Ich hole Agnès’ Foto heraus und halte
es ihm vor die Nase. Si, si, er nickt, hough, hough!
    „Die señorita und ich
Freunde... Cigarillo, Kumpel?“
    Ich habe immer ein Päckchen Zigaretten
in der Tasche, für alle Fälle. Der Zigeuner nimmt mein Angebot an.
    „Sperr deine Ohren mal ‘n bißchen auf, amigo. Die señorita und ich...“
    Mit Händen und Füßen mache ich ihm
schließlich klar, daß ich der señorita nichts Böses antun will und daß
ich kein Arschloch bin. Ich schwitze wie ein Affe, meine Kehle brennt wie
Feuer, aber jetzt können wir so etwas wie eine Unterhaltung beginnen. Unsere
Verkehrssprache ist ein Kauderwelsch aus französischem Argot und spanischem Freistil,
vermischt mit Ausdrücken des Languedoc-Dialekts. Auf diese Weise erfahre ich
folgendes:
    Sein Wohnwagen steht — ohne Räder! —
am Rande einer Zigeunersiedlung ganz in der Nähe. Nachts streicht er gerne um
die Häuser in der Umgebung herum, die verlassen dastehen. (Sicher will er
verhindern, daß dort eingebrochen wird!) Vor ein paar Tagen — Datum unpräzise —
hat er jemanden in diesem Haus hier stöhnen hören. Er ist durch das Fenster auf
der Rückseite eingestiegen und hat ein junges Mädchen — das auf dem

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