Wenn Wir Tiere Waeren
hellen noch in dunklen Kleidern. Ich war schon lange an Marias Vorwürfe gewöhnt. Ich fand es (heimlich) schön, hinter meiner Zeit zurückzubleiben (Urlaubsverweigerung). Noch schöner war, die Verweigerung zu bemerken und daraus den Honig einer lächerlichen Abweichung herauszusaugen, nach der es Maria nicht verlangte. Ich fühlte, wie mich die Zeit schmerzte, weil sie so oft bloß an mir vorüberging. Ich würde nicht in die Herrenabteilung eines Kaufhauses gehen, ich würde mir nicht Jacken und Hosen ansehen, ich würde nichts kaufen müssen. Ich merkte, wie mich meine Stimmung von Minute zu Minute gläserner machte. Plötzliche Einsichten machen leblos, ich kannte das aus ähnlichen Situationen. Zum Glück entdeckte ich in meinen immer noch herumliegenden Bettsachen einen Grashüpfer. Er musste ins Zimmer gekommen sein, als die Balkontür lange offenstand und ich mit Duschen und Rasieren beschäftigt war. Ich überlegte, ob ich das Bett den ganzen Tag lang nicht anrühren sollte, um dem Grashüpfer ein Gefühl dafür zu geben, dass es außer der ersten Natur eine zweite (gemachte) Natur gab, die auch nicht schlecht war. Leider störte mich mein albernes Bildungsgehabe. Ich nahm die Bettdecke samt Grashüpfer und schüttelte sie auf dem Balkon aus. Ich wusste schon jetzt, dass mich nachher, wenn ich auf der Straße sein würde, plötzlich ein Verlangen nach Maria und Karin packen würde. Das Telefon klingelte, ich ging nicht dran. Dabei wollte ich nicht zu fahrlässig werden. Es war möglich, dass Erlenbachs Büro nach mir verlangte. Im Radio lief ein Klarinettenstück von Brahms. Da sah ich, dass der Grashüpfer noch immer in meiner Wohnung war. Er hatte sich rechtzeitig auf das Kissen gerettet, von mir unbemerkt. Nach einer Weile sehnteich mich danach, so langweilig sein zu können, wie Brahms es gewesen sein musste. Vermutlich war es immer noch revolutionär, die Welt mit ihrer unaufhebbaren Langeweile zu konfrontieren. Es war ein einschläferndes, kurzatmiges Klarinettengefiepe, im Hintergrund ein halb abgestorbenes Geklimper am Klavier. Wahrscheinlich war alles Unfug, was ich dachte, und ich wusste es. Brahms war einer der ernstesten und radikalsten Künstler, die es je gegeben hatte. Der Grashüpfer saß auf der am höchsten aufgebauschten Stelle des Kissens. Jetzt hau ab, ich will gehen, sagte ich zu ihm. Er hüpfte tatsächlich, aber nicht zur Balkontür hinaus, sondern hinab auf ein kleineres Kissen. Ich überlegte, ob ich ihn fangen und eigenhändig hinauswerfen sollte. Aber dafür war das Tier schon ein wenig zu groß. Als Kind hatte ich im Sommer fast jeden Tag Grashüpfer gefangen. Aber eines Tages griff ich nach einem zu großen Grashüpfer, und als ich merkte, wie sehr das Tier von innen gegen meine geschlossene Faust drückte, packte mich einer der ersten Ekelanfälle meines Lebens. Ich öffnete die Hand, schleuderte das Tier in die Gegend und fing nie wieder einen Grashüpfer. Ich ging in die Küche und holte ein Wasserglas und einen Bierdeckel. Mit bösartiger Plötzlichkeit stülpte ich das Glas über den Grashüpfer, schob den Bierdeckel unter das Glas, trug beides auf den Balkon und schleuderte den Grashüpfer aus dem Glas hinaus in die Luft. Ich schätzte diese vor sich hinschleichenden Tage, aber sie durften nicht zu langsam werden. Dann wuchs die Gefahr, dass ich mir im Handumdrehen verarmt vorkam. Von meinem Balkon aus sah ich einen Pfandflaschensammler, den ich hier schon öfter gesehen hatte. Er hatte sich aus Kartonhälften, aufgespannten Schirmen und alten Kleidern eine Art Wohnloch gebaut. Niemand ginggegen ihn vor, was mich wunderte, aber wahrscheinlich war ein Schlag gegen ihn in Vorbereitung. Ich ging zurück in meine kleine Küche und aß vom Kürbiskernbrot die Kürbiskerne herunter. Durch diese Tätigkeit legte sich allmählich meine Unruhe. Es war noch nicht lange her, dass ich mir beinahe täglich Gedanken darüber machte, was mit meinen alten Eltern geschehen sollte. Wo sollten sie wohnen, wer sollte sie pflegen, wer sollte ihnen den Alltag erträglich machen? Jetzt waren meine Eltern tot, und das Verblüffende war, dass ich mir immer noch die alten Sorgen machte, die sich jetzt auf mich selbst bezogen: Wo sollte ich wohnen, wer sollte mich pflegen, wer sollte mir im Alltag helfen? Ich hatte schon längst bemerkt, dass ich selbst alt sein wollte, weil mir die Lust an jeder Art von Arbeit abhanden gekommen war. Ich sehnte mich nach Ruhe und Untätigkeit. Ich musste diese
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