Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
in Kürze mit einem kleinen Knall ihre Tätigkeit einstellte. In der Nacht von gestern auf heute hatte sich in meinem Plumeau ein kleiner Riss aufgetan. Dort, wo ich im Dunkeln oft hinfasste, um das Plumeau über mich zu ziehen, war das Gewebe brüchig geworden. Mein Kühlschrank war so gut wie leer, ich musste einkaufen. Ich öffnete das Fenster, um einer Amsel besser zuhören zu können. Da sah ich etwas Sensationelles: Die Amsel sang und schiss gleichzeitig. Da! Vorne, aus dem schönen gelben Schnabel, stieß sie lange Triller aus, und hinten, unterhalb des Schwanzes, schossen mehrere kleine weiße Scheißespritzer hervor. Das Kunststück war mit einer leichten Körperanhebung verbunden, die dem Tier die beiden Anstrengungen vermutlich erleichterte. Ich wartete auf eine Wiederholung, aber da erschien auf dem Trottoir eine lärmende Kindergartengruppe mit zwei Betreuerinnen. Das war der Amsel zuviel, mir auch. Ich wollte das Fenster schließen, aber dann fiel mir auf, dass fast jedes Kind ein Spielzeug oder ein Ausrüstungsteil mit sich führte. Einen Sturzhelm, einen Roller, eine Pistole, einen Kettcar, eine Trommel, ein Stoppschild, mit Perlen bestickteRucksäcke oder Schuhe mit blinkenden Absätzen. Der Anblick verstimmte mich. In meinem Inneren plädierte ich für die sofortige und endgültige Enteignung der Luxuskinder und schloss das Fenster. In der Küche sammelte ich leere Flaschen ein. Gerade wollte ich die Wohnung verlassen, da klingelte das Telefon. Am anderen Ende war Thea, die sich mit mir verabreden wollte. Ich hatte keine Lust, Thea wiederzusehen, aber es fiel mir so schnell keine Ausrede ein. Immerhin gelang es mir, sie in ein Café und nicht in ein Restaurant zu bitten, um 12.00 Uhr. Bis dahin hatte ich noch mehr als eine Stunde Zeit, die ich leider nicht recht nutzen konnte, weil mich das Wiedersehen mit Thea beunruhigte. Thea hatte bis heute den Drang, unsere Ehe zu besprechen, was sie schon während der Ehe leidenschaftlich tat und was mich schon damals lähmte. Auf der Straße war es jetzt ruhig. Mir fiel ein, dass ich ein neues Armband für meine Armbanduhr brauchte. Das Lochende des Armbands war vor etwa zwei Wochen gerissen und abgefallen. Ich müsste es schaffen, einen Uhrenladen zu betreten und zu sagen: Ich möchte ein neues Armband für meine Armbanduhr. Dann müsste ich meine Uhr mit dem schadhaften Armband auf die Ladentheke legen. Statt dessen hatte ich angefangen, an dem abgerissenen Ende des Armbands Gefallen zu finden. Während des Gehens holte ich zuweilen die Armbanduhr aus meiner Sakkotasche heraus und betrachtete mit Bewunderung das Moment der Abgerissenheit. Ich staunte darüber, dass ein so kleines Zeichen das Hauptmerkmal des Lebens, die allgemeine Zerfetztheit, so wunderbar präzise abbilden konnte. Allerdings fürchtete ich mich schon davor, dass das abgerissene Uhrarmband eine Ankündigung der zukünftigen Abgerissenheit meines ganzen Lebens bedeuten könnte. Gleichzeitigmusste ich innerlich lachen über meine kindische Alltagsmystik. Prompt ging ich erneut an dem von mir favorisierten Uhrenladen vorbei. Allerdings sah ich fast gleichzeitig schon wieder einen neuen Briefträger. Ich sah es ungern, dass die Post ihre Briefträger so oft auswechselte. Schon aus einiger Entfernung konnte ich die unwissende Flüchtigkeit erkennen, mit der der neue Postmann ans Werk ging. Ich strebte nach einem Vertrauensverhältnis zu meinem Briefträger. Ich wollte, dass der Mann (oder die Frau) mich und meinen Briefkasten kennenlernte. Statt dessen musste ich mit ansehen, wie der neue Mann mit postunüblicher Hast manche Briefe in die falschen Briefkästen stopfte und mit schlechtem Gewissen davoneilte. Ich fürchtete, die vielen schlechtbezahlten Postangestellten litten unter ihrer Scham. Vermutlich fanden sie es bedrückend, dass sie jetzt Briefträger geworden waren und sogar diese scheußlichen Postgummiuniformjacken tragen mussten. Ein stets wiederkehrender Briefträger wäre für mich ein wertvolles Verbindungsglied zum abstrakten Allgemeinen gewesen, unter dem alle litten (ich besonders), weil es uns als geschlossenes System gegenübertrat und sich kaum durchschauen ließ. Wenig später erschöpften mich meine Gedanken über die Post. Mein Gott, seufzte ich leise für mich, es ist nur die Post!
    Das Lokal war ein mäßig schrilles Jugendcafé und kaum besucht. Ich wählte einen Tisch in der Nähe des Fensters und bestellte einen Milchkaffee. Gerade wollte ich eine Zeitung

Weitere Kostenlose Bücher