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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Thea sagen müssen. Aber leider steckte ich gerade wieder in meinem eigenen inneren Oratorium, aus dem ich nur noch selten hervortrat. Im Gegenteil, ich geriet allmählich an den Rand einer weitreichenden Untätigkeit, die sogar das Sprechen einschloss.
    Ich winkte die Bedienung herbei, zahlte mit abgewandtem Gesicht, erhob mich und ging in RichtungRummelplatz davon. Diese Einfallslosigkeit hätte mich alarmieren müssen. Seit meinem achten Lebensjahr ging ich, wenn mein Leben ins Stottern und Stolpern geriet, auf den Rummelplatz. Dabei half mir, dass ich immer noch, sogar vor mir selber, mit meiner unglücklichen Kindheit angab. Ich schätzte dieses Kindheitserinnerungsgehabe schon lange nicht mehr, aber die Erfolge der Unglücksangeberei mit der Kindheit waren immer noch gut. Die dumme Musik und der Vergnügungslärm auf dem Rummelplatz machten mich stumm, brachten mich aber in Übereinstimmung mit mir selber. Schon gefiel mir eine tiefschwarze Amsel, die auf dem Dach eines hellgelben Postautos saß. Ich nahm mir vor, Thea am Abend anzurufen und meine Zusage rückgängig zu machen. Das würde sie irritieren, so etwas war sie von mir nicht gewöhnt. Ich hörte sie schon ausrufen: Was ist bloß in dich gefahren!? Dann würde ich antworten: Gar nichts ist in mich gefahren, ich will bloß nicht länger dein missbrauchter Nothelfer sein. Was? würde sie entsetzt ausrufen. Ja, würde ich eiskalt antworten, man denkt so lange das Unmögliche, bis man es eines Tages aussprechen kann.
    Ich betrachtete zwei ältere Hausfrauen, die vor einer kleinen Gruppe von Rockmusikern standen und ihre Körper rhythmisch bewegen wollten. Die Frauen waren betrunken und bemerkten nicht, dass die Rockmusiker über sie lachten. Ein junger Mann hob eine halbe Zeitungsseite vom Boden auf und begann gehend zu lesen. Behinderte wurden in ihren Rollstühlen halb liegend und halb sitzend mit offenem Mund über das Gelände geschoben und starrten in den Himmel. Obwohl ich erst seit zehn Minuten hier war, wurde ich schon zum zweiten Mal angebettelt. Ich strengte mich an, die voraussichtlichen Bettler von weitem zu erkennen und ihnen auszuweichen. Als ich ein Schuljunge war, gab es auf den Rummelplätzen kleine Holzgatter, in denen ein Esel oder ein Pony herumstand,manchmal auch ein Kamel. Mehr gab es damals nicht zu sehen. Jetzt ging ich an lärmenden Fahrgeschäften und halb verlassenen Losbuden vorbei. An einem Schießstand hing ein Plakat mit der Aufschrift: Am Sonntag um 21.00 Uhr großes Abschlussfeuerwerk. Ich spielte eine Weile mit dem Wort Abschlussfeuerwerk herum und stieß dabei auf die Worte Ausschussfeuerwerk, Arbeitslosenfeuerwerk, Arschlochfeuerwerk. Ein grüner Luftballon rollte von einer Losbude auf den Weg herunter und wurde vom Wind weitergetrieben. Eine tote Maus lag neben dem Eingang eines Pissoirs. Aus Versehen stieß ich mit dem rechten Bein gegen die halbvolle Plastiktüte einer Hausfrau und entschuldigte mich. Der ledrige, faltige Hals der Frau erinnerte mich an den ähnlichen Hals meiner Mutter. Gegen meinen Willen verharrten meine Gedanken lange bei ihr. Als Kind hatte ich ihre Stummheit nachgeahmt und wäre ihr fast erlegen. Ich saß oft bei ihr und lernte den Mund zu halten, obwohl ich reden wollte. Eigentlich ist das Volk deprimiert, dachte ich jetzt und musste über den Satz lachen. Ich erinnerte mich an einen Abend bei uns zu Hause, als ich mit meinen Eltern am Tisch saß und plötzlich dachte: Schau dir diese beiden Leute an, die sich einbilden, deine Eltern zu sein. Jetzt erkannte ich in diesem Satz einen frühen Höhepunkt meiner Distanz, die ich damals nicht bemerkt hatte. Ich strengte mich an, nicht länger an meine Eltern zu denken, aber es gelang mir nicht. Vermutlich hing der Erinnerungszwang mit dem Rummelplatz zusammen. Obwohl er das Gegenteil versprach, war der Rummelplatz in Wahrheit ein Volksdepressionsplatz. Erst dieses Wort half mir, den Rummelplatz zu verlassen.
    Am Frühabend kam Maria vorbei. Sie stöhnte und seufzte, aber sie schien guter Laune zu sein. Sie stellte zweivolle Plastiktüten zwischen Stuhl und Tisch ab und setzte sich.
    Schau, was ich dir mitgebracht habe, sagte sie.
    Sie holte einen, nein, zwei Beutel mit Unterwäsche aus ihren Plastiktüten heraus und entfernte die Verpackungen.
    Habe ich immer noch nicht genug Unterhosen?
    Unterhosen kann man nie genug haben, sagte sie.
    Daraufhin schwieg ich.
    Maria breitete alles aus, was sie für sich und mich gekauft hatte. Zum Schluss holte sie

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