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Wenn Wir Tiere Waeren

Titel: Wenn Wir Tiere Waeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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keine weiten Reisen. Draußen war es Frühabend geworden. Ich wollte ein bisschen Zeitung lesen, nein, ich wollte nicht Zeitung lesen, ich wollte eine Zeitung nur schnell durchblättern und sie dann wieder weglegen, aber es war keine Zeitung in meiner Nähe. Junge Leute trugen in flachen Kartons ihre Pizza nach Hause. Zwei Straßenalkoholiker traten nach ein paar Tauben. Ich fragte mich jetzt doch, ob es nicht leichtsinnig war, Thea so viel Geld zu leihen. Es stimmte, dass sie im großen und ganzen keine Finanzprobleme hatte, aber es stimmte nicht ganz und nicht immer. Ihre zuweilen lockere Hand in Geldangelegenheiten war sogar einer der Gründe gewesen, warum es mit unserem Zusammenleben nicht geklappt hatte. Ich saß still da und machte mir ebenso stille Vorhaltungen. Eigentlich war ich es, der seine Finanzen nicht zusammenhalten konnte. Jemanden, der ohne schriftliche Fixierung zehntausend Euro auslieh, musste auch ich leichtsinnig nennen. Seit kurzem saßen zwei Frauen an einem Tisch in der Nähe und redeten. Eine der Frauen öffnete zum dritten Mal den Klettverschluss ihrer Tasche und schloss ihn wieder. Das Geräusch des Klettverschlusses würde mich bald vertreiben; aber wohin? Ich musste eigentlich arbeiten, aber ich wollte nicht nach Hause. In einiger Entfernung hörte ich das Gedudel eines Jahrmarkts. Ein Mann legte seine Krawatte ab, faltete sie sorgfältig zusammen und verstaute sie in seiner Aktentasche. Eine verwirrte Frau ging vorüber, das heißt, sieblieb alle zwei bis drei Meter stehen, drehte sich um und schimpfte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Obwohl ich nicht geschlafen hatte, hatte ich Schlafgeschmack im Mund. Ein Mann erschien, faltete einen Klappstuhl aus, setzte sich, legte sich ein paar Zeitungen auf die Knie und rief: Die Obdachlosenzeitung! Die Obdachlosenzeitung! Außer mir achtete niemand auf ihn. Ich fand es außerordentlich, dass es jetzt eine Zeitung für Obdachlose gab. Ich wollte wissen, welche Nachrichten es nur für Obdachlose gab, nein, ich wollte es nicht wissen. Ich war absichtlich in dem Café sitzen geblieben, weil ich heute nicht mehr viel erleben wollte. Gab es auch eine Zeitung für Erlebnisüberdrüssige? Die hätte ich mir sofort gekauft. Ich musste mich hüten vor zu viel überflüssigen Erlebnissen. Die Hälfte dessen, was ich erlebte, wäre für mich ausreichend gewesen. Aber ich konnte oft nicht schnell genug erkennen, welches Erlebnis entbehrlich war und welches nicht. Mein Hauptanliegen war die allgemeine Lebensersparnis. Um leblose Erlebnisse kam ich am besten herum, wenn ich still irgendwo saß, ein Haus oder eine Wand anschaute und dabei, zum Beispiel, dem kindischen Lärm eines fernen Rummelplatzes zuhörte.
    Es zeichnete sich ab, dass ich in Kürze aufstehen und tatsächlich auf den Rummelplatz gehen würde. Unterschwellig fürchtete ich mich schon jetzt vor dem nächsten Restaurantbesuch mit Maria. Sie hatte ein afrikanisches Lokal entdeckt, in dem die Leute mit den Fingern aßen. Man sitzt auf dem Boden, hatte Maria gesagt, man hat mehrere Schüsseln mit verschiedenen Sachen vor sich stehen und holt sich mit den Fingern heraus, was man essen will. Ich hatte nicht den Mut, gleich klipp und klar zu sagen: Ich will nicht mit Fingern essen, und ich will währenddes Essens nicht auf dem Boden sitzen. Ich sehnte mich nach einer Frau, die weniger erleben wollte. Eine solche Frau (das war mein Eindruck) war praktisch unauffindbar. Maria wollte fast täglich etwas erleben, nach Möglichkeit etwas Neues und Extravagantes, wovon sie dann ihren Kollegen im Büro erzählen konnte. Was ich dagegen anbot, war nur selten geeignet, bei ihren Kollegen weitererzählt zu werden. Einmal hatte ich Maria darauf aufmerksam gemacht, wie Krähen vom Boden abheben und wie anmutig und zugleich erschöpft vom vielen Auffliegen die Krallen der Krähen während der Abflugphase nach unten hängen und wie sie dabei ein ausdrucksstarkes Sinnbild für das ewige Sich-herumschleppen aller Lebewesen abgaben. Von Maria kam darauf keine Reaktion. Nichts! Es war mir klar, dass sie schwieg, weil sie mich nicht kränken wollte. Mit herunterhängenden Krallen abfliegender Krähen war Maria nicht zu beeindrucken. In diesen Augenblicken eroberte mich meine Hauptbeklemmung: Ich kannte keine wirklich zu mir passenden Menschen. Damit war leider auch Thea gemeint. Die versuchte Wiederbelebung einer abgesunkenen Ehe durch einen Pump war ein besonders ungeeigneter Versuch. Genau das hätte ich

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