Wenn Wir Tiere Waeren
Stirnwand war ein Buffet aufgebaut. Erlenbach hatte ich noch nicht gesehen. Karin würde das Buffet in Kürze freigeben. Sie machte mich mit einem SPD-Landtagsabgeordneten bekannt, einem blassen Anwalt, der mir seine ebenfalls blasse Ehefrau vorstellte. Vermutlich war der SPD-Mann eingeladen worden, weil Erlenbach & Wächter schon länger auf einen Bauauftrag spekulierten. Die Leute griffen nach Besteck und Tellern und reihten sich hintereinander auf. Ausnahmsweise tat ich nicht so, als hätte ich viel Zeit und keinen Hunger. Ich nahm mir eine Portion Spaghettini mit Trüffeln, drei Crevetten und Spinat. Eine Ehefrau sagte zu ihrem Mann: Du hast die Vorspeise übergangen! Du fängst immer gleich mit der Hauptspeise an! Der Ehemann reagierte nicht; er senkte den Kopf ein wenig tiefer und litt stumm in seinen Teller hinein. Im stillen lobte ich mein Alleinsein. Die Einsamkeit war angenehm, weil sie von Enthüllungen begleitet wurde, die ohne sie nicht möglich wären. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass es Vor- und Hauptspeisen gab. Ich nahm mir ein weiteres Glas Wein und stellte mich vor ein Nacktfoto von Karin, das auf einem Bücherregal aufgestellt war. Wenn Michael Autz noch gelebt hätte, hätte ich mir die Betrachtung des Fotos nicht erlaubt. Es war zu sehen, dass Karin nie ein Kind bekommen und deswegen nie eines gestillt hatte. Ihre Brustwarzen waren klein und fest geblieben und saßen hübsch auf den nicht übertrieben großen, tatsächlich leicht eingesunkenen Brüsten.
Die Leute aßen schnell und lachten viel. Es erstaunte mich, wie wenig Michael Autz hier vermisst wurde. Ich fragte mich, ob Autz damit gerechnet hatte, dass eines Tages ein Kollege vor dem Bild seiner Frau stehenbleiben würde. Ich hörte, wie Erlenbach den Satz sagte: Es geht nicht um Betrügereien, es geht um Melancholie. Ich wollte weder über das eine noch über das andere reden müssen und verdrückte mich in die Küche. Ich litt ein wenig unter Einsamkeit beziehungsweise innerer Bodenlosigkeit. In der Küche standen zwei sehr gut angezogene Frauen und aßen Gurkensalat. Ich hatte das Gefühl, man werde mich bald vor die Tür setzen, wenn ich nicht auch bald eine Posse über das lächerliche Menschenleben beisteuerte. Am liebsten hätte ich die beiden Frauen gefragt: Haben Sie sich wirklich so schick gemacht, um am Abend Gurkensalat zu essen? Vermutlich ahnten die Frauen meine innere Respektlosigkeit. Sie verließen die Küche mit ihren Tellerchen, ich folgte ihnen mit einem Schälchen Obstsalat. Leider ahnte ich, dass die Stunde meiner Nichtauthentizität bald anbrechen würde. Dann würde ich etwas halb Erfundenes erzählen, was ich noch während des Erzählens bereute. Aber die Erzählung würde schnell aus meinem Mund herauskommen und die Leute erstaunen und unterhalten. Dann hätte ich meinen Teil zum Gelingen des Abends beigetragen und dürfte wieder stumm sein.
Ich gehe davon aus, sagte Erlenbach im Flur, dass so gut wie alle Menschen Melancholiker sind.
Wirklich fast alle? fragte eine Frau.
Die Melancholie ist der Grund, dass so viele Menschen Lust auf abweichendes Verhalten haben, sagte Erlenbach.
Ich nicht, sagte die Frau.
In der Abweichung kann sich die Melancholie ausdrücken, das ist es, sagte Erlenbach.
Bei mir ist das völlig anders, sagte die Frau und kicherte.
Das wichtigtuerische Gerede von Erlenbach stieß mich ab. Ich verließ den Flur und suchte die Tür zu einem anderen Zimmer. Dort beobachtete ich ein sich umarmendes Paar. Die Frau fuhr mit der Hand den Rücken des Mannes hoch und legte ihre Hand dann auf seiner Schulter ab. Er rutschte mit der Hand ihren Rücken hinunter und knutschte ihren Po. Wenn es mir gelungen wäre, jetzt schon zu gehen, hätte ich ruhiger sein können. Ich geriet in die Nähe der anderen Frau, die mit ihrem Gurkensalat immer noch nicht fertig war. Sie stand in einem Kreis von drei Personen, die über die Unmöglichkeit ihrer früheren Ehen redeten. Mit diesem Thema fühlte ich mich fast zwangsverheiratet und blieb stehen. Es erstaunte mich, dass die Leute über ihre früheren Ehen heute nur noch lachen konnten. Bald sahen die Leute mich an, weil sie auch von mir eine Lachnummer über eine frühere Ehe erwarteten. Ich war offenbar eine Ausnahme, da ich unter meiner Ehe mit Thea noch heute litt. Ich verdrückte mich wieder hinaus auf den Flur. Dort nahm ich mir erneut übel, dass ich Thea einmal geheiratet hatte. Es hatte Warnzeichen vor dieser Ehe gegeben, die ich zwar bemerkt, aber
Weitere Kostenlose Bücher