Wer Andern Eine Grube Gräbt: Mitchell& Markbys Fünfter Fall
ihre Schwestern hatten geheiratet. Irgendwie war sie einfach dageblieben und hatte weitergemacht; zu Hause, wo es komfortabel und bequem und außerdem auch billiger war, hatte sie in einer lockeren Beziehung mit ihrem Vater zusammen gewohnt. Und vielleicht war sie – trotz ihrer neunundzwanzig Jahre und all ihrer beeindruckenden Qualifikationen – niemals wirklich erwachsen geworden. Das alles rief sie sich ins Gedächtnis zurück, während sie den Wagen rückwärts auf die Straße setzte und dann in Richtung Bamford losfuhr. Sie war eine vorsichtige Fahrerin, und sie benötigte eine ganze Stunde, obwohl die Strecke größtenteils über die Autobahn führte. Bamford war ein Ort sonntagabendlicher Stille. Eine Glocke rief die Gläubigen zur Abendandacht, und Menschen eilten allein oder zu zweit zur Kirche oder Kapelle. Die Pubs waren noch geschlossen. Ursula parkte in der leeren Seitenstraße, ein paar Dutzend Yards unterhalb von Amy Salters Haus, und blieb beobachtend hinter dem Steuer sitzen, unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Es waren kleine Reihenhäuser, deren Fassaden direkt an den Bürgersteig grenzten, mit abgenutzten Eingangstreppen aus Stein. Sie waren ausnahmslos in gutem Zustand, mit frisch gestrichenen Türen und glänzend polierten Messinggriffen. Hinter den Fenstern hingen Tüllgardinen, und in den Dielenfenstern standen Fruchtschalen oder Blumen, genau in der Mitte zwischen Tüll und Glas. Die Häuser waren der Inbegriff von altmodischer Respektabilität. Ursula konnte wohl kaum zur Tür gehen und klopfen und sich geradewegs nach Natalie erkundigen; womöglich würde sie auf diese Weise nur unnötige Aufregung verursachen oder würde am Ende gar noch beschuldigt, bösartige Gerüchte in die Welt zu setzen. Und was, wenn Natalie tatsächlich im Haus war? Wenn sie selbst öffnete? Was sollte Ursula sagen? Wie konnte sie ihr in die Augen blicken? Sie trommelte nervös auf dem Lenkrad. Unversehens öffnete sich die Tür des Salterschen Hauses, und Amy Salter, schick angezogen und offensichtlich in blühender Gesundheit, trat heraus. Sie fummelte in ihrer Handtasche und schloss dann hinter sich die Tür, bevor sie zielstrebig die Straße hinunterging, ohne, wie Ursula bemerkte, zum Abschied ins Haus zu rufen. Sobald Amy um die Ecke gebogen und außer Sicht war, sprang Ursula aus dem Wagen, marschierte entschlossen zu der grün gestrichenen Tür, und betätigte den Messingklopfer in Form eines Fuchskopfes. Das Geräusch echote auf eine Weise, wie man es nur hören kann, wenn ein Haus leer ist. Nichtsdestotrotz versuchte sie es ein zweites Mal; sie bückte sich sogar, hob die Zeitungsklappe und rief:
»Natalie?« Nichts. Ursula trat zum Frontfenster und presste die Nase gegen die Scheibe, doch die Tüllgardine verwehrte den Blick in den dahinterliegenden Raum. Plötzlich flog im ersten Stock des Nachbarhauses ein Schiebefenster auf, und ein Frauenkopf erschien im Fensterrahmen.
»Wollten Sie zu Mrs. Salter, Liebes?«
»Äh, ja …« Ursula blickte nach oben und schirmte die Augen ab.
»Sie wird wohl zur Abendmesse gegangen sein, in die Allerheiligenkirche. Das tut sie immer, regelmäßig wie ein Uhrwerk, außer, wenn sie sich nicht ganz wohl fühlt.«
»Oh. Ich verstehe. Äh … Mrs. Woollard, das ist Mrs. Salters Tochter – sie ist nicht zufällig hier, schätze ich? Eigentlich wollte ich nämlich zu ihr.«
»Sie meinen Natalie? O nein, Liebes. Sie ist ganz bestimmt nicht hier. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe.«
»Oh. Danke.« Das Fenster schloss sich krachend. Ursula trat den Rückzug zu ihrem Wagen an. Wenn man wie Dan auf einen Schwindel aus war, dann war es jedenfalls nicht klug, es in einer Straße wie dieser zu versuchen, wo die Nachbarn jeden Schritt des anderen zu kennen schienen. Aber war es überhaupt ein Schwindel? Und wenn ja, was konnte sie dagegen tun? Und dann, während der Nachhausefahrt, fiel es ihr wie aus heiterem Himmel ein.
»Meredith! Natürlich!«
Es war später Sonntagabend, und Meredith räumte die Wohnung auf. Toby war gerade ausgegangen. Solange er in ihrer Wohnung war, konnte sie nur hilflos beobachten, wie das Chaos ringsum anwuchs. Während sie wütend vor sich hinmurmelte, klopfte sie das Kissen auf, sammelte Zeitungspapier ein, das überall auf dem Boden verstreut lag, wusch Tassen und Teller ab, reinigte das Badezimmer und jagte den altersschwachen Staubsauger umher.
Schließlich warf sie sich aufs Sofa und
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