Wer Andern Eine Grube Gräbt: Mitchell& Markbys Fünfter Fall
Lippe.
»Meinst du, sie haben etwas durch die Tür hindurch gehört?«
»Wenn es so ist, haben sie es jedenfalls für sich behalten. Sie kümmern sich nicht um Dinge, die nichts mit ihrer Karawane zu tun haben, genau wie sie es gesagt haben.«
»Dan würde sagen, dass sie nur die Lage erkunden wollten«, murmelte Ursula.
»Sie sind vorbeigekommen, um zu sehen, wer von uns über Nacht hier bleibt.«
»Dann wissen sie es jetzt«, antwortete Meredith.
»Wir beide.« Brian Felston stand in der Küchentür von Mott’s Farm und beobachtete seinen Onkel. Das Farmhaus war nicht besonders alt; es stammte aus den zwanziger Jahren und war nichts Außergewöhnliches. Auch hatten die beiden Männer nichts an der Einrichtung verändert, was es attraktiver oder einladender gemacht hätte. Es war eine Junggesellenbude für zwei arbeitende Männer. Die einzigen Bilder an der Wand waren eines von Ruth und Naomi in bräunlichem Schwarzweiß und ein anderes von Winston Churchill, das Lionel vor langer Zeit in patriotischer Stimmung aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und gerahmt hatte. Es gab keine Kissen auf den Sofas, keine Häkelteppiche oder Blumenvasen. Nichts – bis auf ein paar Ziergegenstände, die Brians Mutter vor langer Zeit aufgestellt hatte, als sie noch mit seinem Vater hier zusammengelebt hatte. Alles auch nur halbwegs Dekorative hatte ihr gehört. Brian konnte sich nicht mehr besonders gut an sie erinnern. Sie war weggegangen, als er vierzehn gewesen war. Eines Tages hatte sie einfach ihren Hut und ihren Mantel angezogen und war zur Tür hinausgegangen. Er machte ihr deswegen keine Vorwürfe, auch wenn er sie vermisste. Sie hatte ein Hundeleben gehabt. Brian verstand ihre Entscheidung und fühlte sich sogar ein wenig mitschuldig deswegen. Wäre er älter gewesen, hätte er ihr helfen und sie sogar beschützen können. Vielleicht. Doch er war nur ein Kind gewesen und hatte untätig zusehen müssen. Bis sie sich aufgelehnt hatte und gegangen war. Sie hatte das Richtige getan. Brian beobachtete seinen Onkel und dachte, dass Lionel in der trostlos gewöhnlichen Küche wenigstens um hundert Jahre fehl am Platz aussah. Er saß an dem Tisch aus Tannenholz und las im Licht der Art-Deco-Lampe (die Brians Mutter gehört hatte!). Die Lampe besaß nur eine schwache Glühbirne, und es gab kein anderes Licht im Raum. Draußen war es zunehmend dunkler geworden, und drinnen auch, als hätte sich ein Vorhang über den alten Mann gelegt, der in einem Lichtkegel aus gesprenkeltem Orange, Grün und rotstichigem Blau saß, der von der Bleiverglasung der Lampe auf ihn fiel. Er sah aus wie ein Relikt aus Zeit, Raum und Geisteshaltung. Der alte Bursche las an diesem Abend nicht in seiner Bibel, sondern in einem dicken Band mit viktorianischen Predigten. Seine Augen waren noch immer ausgezeichnet, und selbst in dem schwachen Licht benötigte er keine Brille, auch wenn er beim Lesen den Zeilen mit dem Finger folgte und seine Lippen lautlos die Worte bildeten. Es war kein Zeichen schlechter Lesefähigkeit; Brian wusste, dass sein Onkel das Gefühl von Bedeutung und Autorität mochte, das von den getragenen, feierlichen Worten ausging. Er schwelgte in der archaischen Ausdrucksweise und in farbenprächtigen Metaphern. Sie hatten einen Fernseher im Haus, doch der alte Mann benutzte ihn nie. Er war fest davon überzeugt, dass der Apparat nichts außer halb nackt umhertollenden Frauen zeigte. Sogar Brians Versuche, ihn zum Ansehen der Wettervorhersage zu bewegen, waren kläglich fehlgeschlagen, weil Lionel einmal eine Frau als Moderatorin gesehen hatte. Außerdem wusste er mit einem Blick in den Himmel, wie das Wetter wurde. Viele Menschen hätten den Alten als Exzentriker bezeichnet, doch Brian sah das nicht so. Lionel war ein erstklassiger Farmer und nur in moralischer Hinsicht ein wenig verschroben. Und daran war Brian längst gewöhnt. Er hatte sein ganzes Leben miterlebt, dass Lionel die Gelüste menschlichen Fleisches verabscheute. Und das machte das Leben schwierig, ganz besonders im Augenblick. Wenn der alte Mann auch nur den leisesten Verdacht hegte … Brian spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und zugleich tiefer Groll in ihm aufstieg. Hatte er nicht jedes Recht, sein Leben so zu leben, wie er es wollte? Musste der alte Mann jede Chance auf ein klein wenig Glück mit seinen Vorstellungen von Pech und Schwefel verderben? Brian bewegte sich leise durch die Küche, hinter dem Sessel seines Onkels vorbei. Der alte Mann
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