Wer Andern Eine Grube Gräbt: Mitchell& Markbys Fünfter Fall
sich Markbys Feststellung. Sie besaß genau genommen überhaupt keine Figur, so dick war sie eingewickelt in Petticoats und Tücher – wie eine dieser russischen Puppen –, stabile Stiefel am einen Ende und ein hochrotes Gesicht mit einem Kopftuch am anderen. Als er hinsah, öffnete sie den Mund und begann zu singen. Wenigstens sollte das, was ihre Stimmbänder produzierten, ohne Zweifel wie Gesang klingen. Genau wie der Sinn des Ganzen darin bestand, um Geld zu betteln. Markby war selbst nicht musikalisch, und da er sich dieser Tatsache bewusst war, neigte er zu Toleranz gegenüber dem Geschmack anderer. Doch diesmal musste er unumwunden zugeben, dass die produzierten Geräusche entsetzlich klangen. Der Geiger besaß rudimentäre Kenntnisse von seinem Instrument, jedoch offensichtlich kein musikalisches Gehör. Was die Sängerin betraf, so hatte ihr wohl offenbar jemand gesagt, dass Volkslieder in einem unmelodischen Geheul hinausgebellt werden mussten, in Verachtung jeglicher konventioneller Präsentation. Die beiden hatten – wenig überraschend – nicht sonderlich viel Erfolg. Fußgänger hasteten entsetzten Blickes vorbei. Nicht einer warf eine Münze in die bereitliegende Mütze auf dem Pflaster. Markby fragte sich, ob er den strengen Gesetzeshüter spielen und sie vertreiben sollte. Doch sie versperrten weder den Durchgang, noch wurden sie gegenüber den Passanten in anderer Weise als durch ihre akustischen Angriffe zudringlich. Markby beschloss, sie einstweilen in Frieden zu lassen, und marschierte mit einem Blick auf seine Armbanduhr weiter. Es war gerade zwölf Uhr, und er war bereits hungrig. Der Bunch of Grapes lag nur ein paar Dutzend Yards weiter die Straße hinunter, und dort gab es einen ausgezeichneten hausgemachten Eintopf mit knusprigem Brot. Markby lenkte seine Schritte auf das Lokal zu. Nachdem er mit seinem Essen und einem Pint in einer Ecke Platz genommen hatte, wanderten seine Gedanken zwangsläufig zu Meredith, mit der er erst am vorigen Abend hier in diesem Pub gewesen war. Er sah sie nicht annähernd so häufig, wie er gerne gemocht hätte, insbesondere, seit sie in diese Wohnung in London gezogen war. Eine Wohnung, die nun von ihrem männlichen Besitzer heimgesucht wurde, der dort Wurzeln zu schlagen drohte. Markby starrte wütend in sein Bier. Erst recht ärgerte ihn, dass sie nun, da sie in der Gegend war, ihre Zeit draußen auf dem Bamford Hill verbringen würde. Er fragte sich, wie sie bei der Grabung zurechtkam. Hoffentlich hatten sie und ihre Freundin, diese Ursula, eine ungestörte Nacht in ihrem Wagen verbracht. Tatsächlich hatte Markby das Auftauchen der New-AgeKarawane von Anfang an als dringliches Problem behandelt, trotz der beruhigenden Worte, die er Ian Jackson gegenüber geäußert hatte. Doch Markby wollte unter allen Umständen Unannehmlichkeiten vermeiden. Bestimmt waren kleine Kinder in diesem Konvoi. Gewalt war nicht die Antwort. Trotzdem war Markby sich sehr wohl bewusst, dass er etwas würde unternehmen müssen, wenn der Konvoi nicht bald von sich aus weiterzog. Freiwillig. Vielleicht war es keine schlechte Idee, wenn er am Abend hinausfuhr und ein Wort mit den Anführern wechselte. Und gleichzeitig bei Meredith vorbeisah. Markby nahm einen Schluck von seinem Bier. Während er über all das und über Meredith nachdachte, kam ihm auch die Geschichte wieder in den Sinn, die sie ihm über Dan Woollard und seine vermisste Frau erzählte hatte. Wenn Natalie Woollard tatsächlich vermisst wurde. Im Augenblick herrschte wenig Betrieb im Bunch of Grapes, und Jenny, die hinter dem Tresen stand, wischte faul die Theke und suchte offensichtlich nach einem Gesprächspartner. Er stand auf, um seinen leeren Suppenteller zurückzubringen und sein Glas neu zu füllen, und beugte sich über den Tresen, während Jenny mit dem Zapfen beschäftigt war.
»Nehmen Sie sich auch eins«, lud er sie ein.
»Danke!« Sie war schon lange im Geschäft und lehnte derartige Angebote niemals ab, weil sie Geld in die Kasse brachten. Trotzdem beging sie nicht den Fehler, sich durch Einladungen zum Konsum von Alkohol verleiten zu lassen. Thekenpersonal brauchte einen klaren Kopf. Sie schenkte sich einen Bitter Lemon ein.
»Cheers!«, sagte sie freundlich.
»Kommen Sie eigentlich hin und wieder zum Lesen, Jenny?«
»Ich hab irgendwo die Sun liegen«, sagte sie unsicher.
»Falls Sie eine Zeitung von heute suchen.«
»Nein, ich meine Bücher. Lesen Sie jemals ein Buch? Ich meine, so wenig Zeit,
Weitere Kostenlose Bücher