Wer Andern Eine Grube Gräbt: Mitchell& Markbys Fünfter Fall
Jetzt lag Meredith wach in der Dunkelheit und spürte noch immer die Unruhe in sich, die ihr Traum hinterlassen hatte und die nicht weichen wollte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie angestrengt auf ein Geräusch lauschte. Auf der anderen Seite des Wagens war regelmäßiges Atmen zu hören; Ursula schlief also. Meredith schielte auf das beleuchtete Zifferblatt ihrer Uhr und sah, dass es kurz vor drei Uhr morgens war. Nicht mehr lange, und es würde hell werden. Sie freute sich schon jetzt auf die Dämmerung und den einsetzenden Gesang der Vögel. Es war kalt geworden in dem ungeheizten Wagen, und nicht einmal der Schlafsack vermochte diese Tatsache zu verbergen. Meredith streckte eine Hand aus und berührte die Metallwand. Sie war feucht von kondensierter Luft. Ganz vorsichtig, um kein Geräusch zu machen und Ursula zu wecken, kniete sie sich in ihrem Schlafsack auf die Pritsche, wischte den Beschlag von dem kleinen Fenster und blickte nach draußen. Die Landschaft vor dem Wagen war in silbriges Mondlicht getaucht. Das Gewirr aus Gräben hob sich pechschwarz von der Umgebung ab, als bildeten sie ein gigantisches Rätsellabyrinth, dessen geheimnisvolle Bedeutung niemand zu entschlüsseln vermochte – wie Runen auf einem verlassenen Tempel im Dschungel. Die ferne Weißdornhecke und die Bäume hoben sich als Silhouetten gegen den Himmel ab wie zweidimensionale Papierfriese. Meredith schob den Riegel zurück, öffnete das Fenster einen Spalt und schob ihr Gesicht in die Lücke, um die frische Luft atmen und besser sehen zu können. Oben im Lager flackerten zwischen den Wagen und Bussen noch immer die letzten Überreste des nächtlichen Feuers, und blassgrauer Rauch stieg in den Himmel. Merediths Blicke wanderten weiter den Hügel hinauf, über den dunklen Wall von Mott’s Castle bis zum Horizont und der schwarzen Ruine von Mott’s Folly, dem viktorianischen Prunkbau. Und da sah sie es, ganz deutlich. Ein Lichtstrahl, in der Ruine. Meredith blinzelte und wartete. Wenige Augenblicke später sah sie es erneut. Irgendjemand streifte durch die Nacht, dort oben am Horizont. Wer mochte das sein? Und um diese Zeit, mitten in der Nacht? Sie wartete fünf oder sechs Minuten, doch das Licht kam nicht wieder. Vielleicht war es ja auch nur ein flüchtiger Funke vom ersterbenden Lagerfeuer der Hippies gewesen, und die schlechte Sicht hatte es so aussehen lassen, als wäre er aus der Ruine von Mott’s Folly gekommen. Der Wind wurde frischer. Die Silhouetten der Bäume schwankten und neigten sich wie vornehme Tänzer. Aus der Dunkelheit des Grabenlabyrinths drang ein dumpfes Flattern von Stoff an Merediths Ohr, und sie zuckte erschrocken zusammen, bevor ihr bewusst wurde, dass Dan und Ian die Plane wahrscheinlich nicht richtig gesichert hatten. Der Wind war unter eine lose Ecke gefahren, und jetzt flatterte sie erneut, ein kurzes, ärgerliches Schnappen, als hätte der darunter liegende Sachsenkrieger beschlossen, sich aus seinem Grab zu erheben und sich für eine Weile die knochigen Beine zu vertreten. Meredith schloss das Fenster, kuschelte sich in ihren Schlafsack und versuchte, wieder einzuschlafen. Draußen vor dem Caravan rauschte der Wind und schaukelte sie sanft. Hin und wieder glaubte sie das Geräusch knackender Äste zu hören, als ob jemand draußen umherlief. Sie konnte noch immer den Rauch riechen. Entweder, er war vom sterbenden Holzfeuer durch das geöffnete Fenster hereingeweht worden, oder aber Pete und Anna hatten ihn zurückgelassen. Irgendwann, während sie darüber nachdachte, was wohl Mutter Erde von all diesem Graben nach ihren alten Geheimnissen hielt, fiel sie wieder in Schlaf.
KAPITEL 8
Als Alan Markby am nächsten Tag in die Stadt eilte, um zu Mittag zu essen, zog der schwache Klagegesang einer Geige die Aufmerksamkeit des Chief Inspectors auf sich. Die Musik, so es denn welche war, klang nicht, als stammte sie aus einem Autoradio oder einem Kassettenrekorder, den jemand auf der Schulter durch die Straße trug. Neugierig geworden, folgte Markby dem Geräusch und fand heraus, dass es aus dem zurückliegenden Eingang eines mit Rollläden verschlossenen Geschäfts kam. Zwei Menschen standen vor der Ladentür, ein Junge und ein Mädchen. Es war schwierig, ihr Alter zu schätzen, doch bestimmt waren sie nicht viel älter als zwanzig. Der Geigenspieler war ein hagerer Junge in abgerissenen Jeans, in Markbys Augen entschieden unterernährt. Das Mädchen war möglicherweise genauso dürr, doch das entzog
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