Wer bin ich ohne dich
Zusammenhang zwischen Beziehungserfahrungen und der Krankheit Depression häufig nicht in seinem ganzen Ausmaß und seiner immensen Bedeutung für die Entstehung der Krankheit bewusst. Die zweite These dieses Buches lautet daher:
Die weibliche Depression ist eine Beziehungsstörung: Die Erfahrungen, die Frauen in und mit Beziehungen machen, können eine Depression verursachen.
Der spezifische Stress der Frauen und ihre Beziehungserfahrungen werden in diesem Buch als Schlüsselfaktoren betrachtet, welche die hohe Erkrankungsrate des weiblichen Geschlechts plausibel erklären können. Denn das Muster
Chronischer Stress + Beziehungsenttäuschung = Depression
findet sich bei vielen Frauen, die am Rande des seelischen Zusammenbruchs balancieren oder bereits depressiv erkrankt sind. Die bisherigen Antworten auf die Frage, warum Frauen häufiger | 14 | als Männer depressiv erkranken, lassen diese Aspekte zwar nicht unberücksichtigt, schenken ihnen aber nicht die nötige Aufmerksamkeit. Nur eine sehr spezifische, auf weibliches Leben und Erleben zugeschnittene Betrachtungsweise kann dem Phänomen der weiblichen Depression gerecht werden – eine Betrachtungsweise, die dieses Buch konsequent einnimmt. Es ist geschrieben für jene Frauen,
die tagtäglich mit unzähligen Stresssituationen fertig werden müssen (und denen das oftmals auf bewundernswerte Weise lange Zeit sogar gelingt),
die nicht Nein sagen, sich nicht abgrenzen können,
die ihren Ärger und ihre Enttäuschung für sich behalten, weil sie fürchten, sonst nicht mehr geliebt zu werden,
die glauben, dass sie zu liebesbedürftig und zu anhänglich sind und deshalb versuchen, ihren Wunsch nach Nähe nicht zu zeigen,
die das Gefühl haben, in ihren Beziehungen emotional zu verhungern und nicht verstehen können, was in ihren Partnern vor sich geht,
die zu viel essen, zu viel trinken, zu viele Beruhigungsmittel schlucken, zu wenig schlafen,
die es allen möglichst recht machen wollen, und darüber völlig vergessen, was für sie denn »recht« wäre.
Dieses Buch will Mut machen. Denn Frauen, die bereits an Depression erkrankt oder von ihr »bedroht« sind, brauchen Mut. Sie brauchen Mut, um die Depression nicht durch noch mehr Aktivitäten, noch mehr Leistung, noch mehr Nettsein abzuwehren oder zu ignorieren. Sie brauchen Mut, um sich ganz in Ruhe | 15 | anzuhören, was die Depression ihnen zu sagen hat. Sie brauchen Mut, sich ihrer Angst vor Veränderung zu stellen. Sie brauchen Mut, die eigene Stimme zu erheben und sich für das eigene, wahre Ich stark zu machen. Denn nur so kann es ihnen gelingen, den depressionsfördernden Bedingungen in ihrem Leben die Schärfe zu nehmen.
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Ein Hinweis: Das Bild der Depression, das ich in diesem Buch vorstelle, verdanke ich unter anderem meiner langjährigen Erfahrung als Psychotherapeutin und den Gesprächen mit zahlreichen Klientinnen und Klienten. Ihre Erfahrungen fließen hier mit ein. Es ist jedoch selbstverständlich, dass sich die Fallgeschichten in diesem Buch nicht auf reale Personen beziehen. Sie sind alle konstruiert. | 16 |
Wie gut, dass niemand weiß …
Warum Frauen depressiv werden
Das Märchen vom Rumpelstilzchen
Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm: »Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.« Der König sprach zum Müller: »Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt, wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloss, da will ich sie auf die Probe stellen.«
Als nun das Mädchen zu ihm gebracht ward, führte er es in eine Kammer, die ganz voll Stroh lag, gab ihr Rad und Haspel und sprach: »Jetzt mache dich an die Arbeit, und wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so musst du sterben.« Darauf schloss er die Kammer selbst zu, und sie blieb allein darin. Da saß nun die arme Müllerstochter und wusste um ihr Leben keinen Rat: Sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, und ihre Angst ward immer größer, dass sie endlich zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Türe auf, und trat ein kleines Männchen herein und sprach: »Guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint sie so sehr?« »Ach«, antwortete das Mädchen, »ich soll Stroh zu Gold spinnen und verstehe das nicht.« Sprach das Männchen: »Was gibst du mir, wenn ich dir’s
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