Wer Blut vergießt
Brieftasche. Der Hotelangestellte hat den Kollegen von der Streife gesagt, der Mann habe sich immer als Mr Smith angemeldet.«
»Wie originell«, meinte Gemma. Dann runzelte sie die Stirn. »Immer? Er war also Stammgast? Was für eine Art Hotel ist das denn?«
»Ich kenne es nicht.« Melody warf einen Blick auf das Navi. »Es ist hinter dem Crystal Palace Park. In der Church Road.«
»Das Einzige, was ich von Crystal Palace kenne, ist der Fußballverein«, sagte Gemma. Die Straßen waren so früh am Samstag relativ leer, und sie hatten schon die Battersea Bridge erreicht. Als sie auf der Brücke waren, blickte Gemma nach unten und sah, dass die Themse ebenso bleigrau war wie der Himmel.
Während sie durch Battersea fuhren, dachte sie an ihre Freundin Hazel, die in einem winzigen, von einer Grundstücksmauer umgebenen Bungalow in einer Seitenstraße der Battersea Park Road wohnte, und sie erinnerte sich mit Bedauern daran, dass sie gehofft hatte, an diesem Wochenende wenigstens kurz dort vorbeischauen zu können. Das konnte sie jetzt wohl vergessen.
»Ich war ein Mal dort«, sagte Melody, und als Gemma sie verständnislos ansah, fügte sie hinzu: »In Crystal Palace. Im Park. Ein Schulausflug. War das zu Beginn der dritten oder der vierten Klasse?«, überlegte sie und runzelte die Stirn. »Also, jedenfalls war es früh im Schuljahr, im September, glaube ich. Wir hatten uns im Unterricht Bilder angeschaut, und ich weiß noch, wie ich über die leeren Terrassen gegangen bin und mir vorzustellen versucht habe, wie er wohl ausgesehen haben musste, dieser riesige Glaspalast. Und ich konnte nicht begreifen, dass von so einem prachtvollen Bauwerk nur noch so wenig übrig war.«
»Er ist abgebrannt, nicht wahr?«
Melody nickte. »Ein paar Jahre vor dem Krieg. Ich nehme an, dass er die Bombenangriffe sowieso kaum überstanden hätte – so ein Ziel wäre zu verlockend gewesen.« Sie deutete nach oben, zu der Anhöhe von Clapham Common und der Nebelbank darüber. »Man konnte ihn übrigens von der City aus sehen.«
»So groß war er?«
»Riesig. Und sie hatten ihn ganz oben auf den Sydenham Hill gepflanzt, den höchsten Punkt zwischen London und der Südküste.«
»Wie ist Crystal Palace denn so? Die Gegend, meine ich.« Im Norden Londons aufgewachsen hatte Gemma vor ihrer jüngsten Versetzung überwiegend in West-London gearbeitet, und sie musste ihr neues Revier erst noch kennenlernen.
»Wird auch immer exklusiver, denke ich, aber so gut kenne ich es dann doch nicht. Schau mal.« Melody deutete in Richtung der blauen Lücken, wo der Nebel ein wenig aufriss, und Gemma erhaschte einen Blick auf einen der Fernsehtürme von Crystal Palace, ehe die graue Wand sich wieder schloss.
Melody konzentrierte sich auf ihr Navi, als sie im Bogen um die eleganten Gebäude des Dulwich College herumfuhren und dann bergauf zwischen kahlen Bäumen hindurch, bis die Straße am höchsten Punkt von Gipsy Hill wieder eben verlief.
Gemma sah Pubs und Geschäfte vorbeiziehen, als sie oben auf dem Hügel vom Einbahnstraßensystem um einen dreieckigen Block herumgeführt wurden. Und dann, als es auf einer von Bäumen gesäumten Straße wieder leicht bergab ging, bemerkte sie das vertraute Flackern des Blaulichts. Die Fahrt hatte nicht ganz fünfundvierzig Minuten gedauert, sie waren also relativ gut vorangekommen.
»Das Belvedere, nehme ich an«, sagte Melody, als sie hinter dem letzten Streifenwagen anhielt.
Das Hotel war zu ihrer Rechten; ein wuchtiges Gebäude, blassrosa verputzt, mit dunkelblauen Markisen an den Erdgeschossfenstern. Ein uniformierter Constable spannte gerade blau-weißes Flatterband vor die Stufen, die zum Eingang hinaufführten. Oben auf der Treppe stand DC Shara MacNicols, anscheinend in eine hitzige Diskussion mit einer untersetzten Frau in einem blauen Kostüm verwickelt.
»Die Inhaberin?«, murmelte Melody, während sie den Motor abstellte und ihren Gurt löste.
»Würde ich auch vermuten.« Gemma stieg aus und zeigte einem der uniformierten Constables, die an der Absperrung Wache hielten, ihren Dienstausweis. Dann ging sie mit Melody auf den Eingang zu.
Als sie näher kamen, sah Gemma, dass Shara rote Perlen in die Enden ihrer kleinen Zöpfe geflochten hatte, lebhafte Farbtupfer, leuchtend wie Beeren an diesem grauen Wintertag. Die blassen Wangen der anderen Frau waren fleckig vom Schock, ihr strohblondes Haar spröde und leicht zerzaust.
»Sie haben seine Identität nicht überprüft?«, sagte Shara
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