Wer Blut vergießt
und ich will doch schwer hoffen, dass du dann deine Griffel wieder zum Gitarrespielen benutzen kannst.«
»Aber ich kann nicht …«
»Ich will nichts hören.« Tam trat zurück. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, seine Stimme war leise, und das war noch schlimmer als sein Wutausbruch zuvor. »Wenn du das hier versaust, Jungchen, dann hast du nicht so viel Hirn, wie der liebe Gott einem Schaf geschenkt hat, und dann ist dein Talent nicht mal so viel wert wie dein oller, versiffter Gitarrenkoffer.« Er holte tief Luft und fuhr dann noch leiser fort: »Wenn du jetzt kneifst, dann bin ich fertig mit dir. Hast du mich verstanden, Jungchen? Zehn Jahre hab ich dir gegeben, alles für eine Chance wie diese, und jetzt hast du nicht den Mumm, sie zu nutzen.«
Tam hätte eigentlich eine lächerliche Figur abgeben müssen, wie er seine Patschhände in die Seiten stemmte, die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammengepresst, aber dem war nicht so.
Andy fröstelte. Er spürte einen Strudel der Gewalt in der kalten Luft, ein Pulsieren negativer Emotionen, bei dem es ihn eiskalt überlief.
Aber es kam nicht von Tam – Tams Wut war greifbar, direkt. Da war noch etwas anderes, dort draußen im Nebel, eine undefinierbare Aura des Bösen, und Andy bekam es plötzlich mit der Angst zu tun.
Und außerdem wusste er, dass Tam recht hatte.
2
Die Grenzen des Bezirks Crystal Palace sind nicht eindeutig definiert. Der Name ist abgeleitet von Crystal Palace Park, doch es gibt auch einen Bahnhof Crystal Palace und den Stimmbezirk Crystal Palace Ward innerhalb des London Borough of Bromley.
www.crystalpalace.co.uk
Das hartnäckige Geräusch riss Gemma aus dem Tiefschlaf.
Sie wälzte sich auf den Rücken und zog das Kissen über den Kopf, um das störende Gedudel nicht mehr hören zu müssen. Duncan tippte ihr auf die Schulter und murmelte etwas.
»Telefon«, sagte er etwas vernehmlicher. »Es ist deins.« So war es – jetzt erkannte sie den nervigen Standard-Klingelton, den sie nach Meinung der gesamten Familie schon längst hätte ändern sollen. Als sie das Kissen vom Gesicht nahm, stellte sie fest, dass das Zimmer von blassgrauem Morgenlicht erfüllt war, und als sie nach dem Wecker schielte, las sie die Ziffern 8:05.
»O Gott«, stieß sie hervor. Mit einem Schlag war sie hellwach, und ihr Herz raste. Wie hatten sie so lange schlafen können? Wieso waren die Kinder noch nicht auf? Kit hatte keine Probleme, am Wochenende auszuschlafen, aber Charlotte und Toby hüpften normalerweise spätestens um sieben auf dem Bett herum.
Dann fiel es ihr wieder ein. Gestern war die Premiere des Pizza-und-Spiele-Abends gewesen, den Duncan eingeführt hatte. Selbst gebackene Pizza und Scrabble, lautete das Programm. Sämtliche elektronischen Geräte waren verboten, ebenso wie jegliches Fast Food. Kit hatte heftig protestiert, als sowohl sein Handy als auch sein iPod verbannt worden waren, aber letztlich schien auch er den Abend genossen zu haben. Die Kleinen hatten lange aufbleiben dürfen, und nachdem sie im Bett waren und Kit sich auf sein Zimmer verzogen hatte, machten sie und Duncan es sich noch mit einer sehr feinen Flasche Bordeaux vor dem Kamin gemütlich und planten das Wochenende. Heute wollten sie mit den Kleinen einkaufen gehen und irgendwo zu Mittag essen, und am Sonntag hatte sie versprochen, zusammen mit den Kindern ihre Eltern in Leyton zu besuchen.
Ihr Handy verstummte, doch ehe sie einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen konnte, fing es wieder an zu läuten. Kein gutes Zeichen. Sie setzte sich auf, zog sich die Decke über die Schultern und tastete nach dem Handy in der Ladestation. Nachdem sie einen Blick auf das Display geworfen hatte, nahm sie den Anruf an.
»Melody?«, meldete sie sich gähnend.
»Tut mir leid, Chefin.« Melody klang hellwach. »Der Samstag fällt ins Wasser, fürchte ich. Wir werden gebraucht.«
»Häusliche Gewalt?«, fragte Gemma, die die Hoffnung auf ein freies Wochenende noch nicht ganz aufgegeben hatte. Der Freitagabend war berüchtigt für familiäre Auseinandersetzungen, die unter Alkoholeinfluss in Gewalt ausarteten, doch solche Fälle waren in der Regel schnell aufgeklärt.
»Nein. Etwas viel Interessanteres«, antwortete Melody munter. »Ein Mann, der in einem Hotelzimmer aufgefunden wurde. Nackt, gefesselt und erdrosselt. Ich kann dich in« – Gemma wusste, dass sie in der nun folgenden Pause beide die gleichen Berechnungen anstellten: eine schnelle Dusche, Anziehen, ein
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