Wer braucht denn schon Liebe
einem Jahr wegen ihrer ständigen Rückenschmerzen einen kaum genutzten Vertrag für das Balletttraining unterschrieben hatte.
Good bye, my love, good bye.
Wem machte sie da eigentlich etwas vor? Sie war niemals ernsthaft in Kevin verliebt gewesen. Seine kräftige männliche Ausstrahlung zog sie an, auch wenn es im Bett zwischen ihnen nicht besonders aufregend lief. Sie empfand es als ausgesprochen angenehm und hilfreich, wenn er sie zu einem dieser seltenen, aber manchmal unvermeidlichen Geschäftsessen begleitete und sie so vor der Anmache anlehnungsbedürftiger Klienten rettete. Karen fühlte sich frei und glücklich, weil Kevin genau wie sie die berufliche Erfüllung in den Mittelpunkt seines Lebens stellte.
Und nun diese maßlose Enttäuschung.
Der Gedanke, dass Kevin während der letzten zwei Jahre die geheime Hoffnung gehegt hatte, sie in eine treu sorgende Ehefrau und Mutter seiner Kinder zu verwandeln, bereitete Karen Magenkrämpfe und echte Übelkeit.
Eine grobe Fehleinschätzung ihrerseits.
Im Grunde musste sie der leidenschaftlichen Theresa also auch noch dankbar sein.
Wie spät war es eigentlich? Tatsächlich schon halb sieben?!
Karen rutschte unruhig näher an die Windschutzscheibe heran. Lag es an ihren Augen, dass sie kein Straßenschild nach Neapel entdeckte, oder hatte sie sich verfahren? Beunruhigt reckte sie sich zum Beifahrersitz, um dort im Handschuhfach nach einer Straßenkarte zu suchen. Nichts.
Und nun?
Drei Kilometer weiter atmete sie erleichtert auf, als sie auf der rechten Fahrbahnseite ein verwittertes Hinweisschild entdeckte, dem sie sich rasch näherte. Dem Zustand des Metalls nach zu urteilen, stammte es aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, und sie musste hart auf die Bremse treten, um es lesen zu können.
Napoli via Pompei, entzifferte Karen mühsam.
Neapel war in jedem Fall die richtige Richtung. Besser, sie folgte diesem Hinweis, als überhaupt nicht zu wissen, wohin sie fuhr. Das riet ihr jedenfalls ihr Verstand. – Womit dieser sich im klaren Widerspruch zu ihrem Gefühl befand. Die schmale Straße mit den vielen Schlaglöchern flößte Karen nicht unbedingt Vertrauen ein.
Ach was! Was sollte schon passieren? Immerhin handelte es sich um einen offiziellen Weg mit einem offiziellen Wegweiser. Selbst wenn sie einen Umweg fuhr, würde sie über kurz oder lang in Neapel am Flughafen landen. Entschlossen lenkte Karen den Wagen auf die Straße.
Um zehn Minuten später erneut anzuhalten. Nachdenklich versuchte sie sich das Straßenschild ins Gedächtnis zurückzurufen.
Neapel via Pompei?
Selbstverständlich kannte sie die Geschichte Pompeis aus dem Schulunterricht. 79 nach Christus: der Ausbruch des Vesuv. Eine meterdicke Schicht aus Asche und Lava begrub Menschen, Tiere und das gesamte Hab und Gut unter sich und konservierte sie für die Neuzeit. Schon damals in der sechsten Klasse hatten die Berichte über die schrecklichen Ereignisse eine ungewöhnlich starke Faszination auf sie ausgeübt.
Vielleicht auch deshalb, weil die einzige Karte, die ihre Mutter ihr jemals geschrieben hatte, ausgerechnet in Pompei abgestempelt worden war.
Karen fühlte, wie ihre Hände plötzlich schweißnass wurden, als sie nach ihrer Handtasche griff. Sie brauchte nicht zu suchen. Ordentlich in Folie eingeklebt steckte die Weihnachtskarte ihrer Mutter in einem Innenfach der Tasche, als ob sie darauf gewartet hätte, von ihr hervorgeholt zu werden. Genauso wie die Farbkopien, die in jeder ihrer anderen Handtaschen steckten.
Der Poststempel wies das Jahr 1982 aus, abgestempelt in Pompei/Galia. Das O und das H von Rohnert waren in der Anschrift verwischt. Karen hatte sich im Laufe der Jahre ausgemalt, dass die Tränen ihrer Mutter beim Schreiben der Karte der Grund hierfür waren.
Meine liebste Karen, liebe Mutter, mir geht es gut. Die Tage hier vergehen wie im Flug. Federico macht mich unendlich glücklich, und ich freue mich auf den Tag, an dem wir uns wiedersehen! Ich hab dich lieb, Kleines! Pass gut auf sie auf, Mama!
Wenige Worte nur, aber sie hatten ausgereicht, um in Karen über die Jahre hinweg die Hoffnung zu nähren, ihre Mutter eines Tages doch noch wiederzusehen. An diese Hoffnung hatte sie sich als Kind geklammert, weil dies allemal leichter war, als sich jeden Abend in den Schlaf zu weinen. Ärgerlich strich sie sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen.
Gütiger Himmel, mit ihren sechsundzwanzig Jahren war sie zu alt, um noch an Märchen zu glauben. Die Zeit
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