Wer braucht denn schon Liebe
ließ sich nicht zurückdrehen. Mittlerweile war sie eine gestandene Frau, der es in Kevins Augen an Leidenschaft mangelte.
Wie hatte er sie genannt?
Einen Eisschrank ohne Abtauautomatik?
In der Auseinandersetzung mit Kevin war es ihr gelungen, Haltung zu bewahren, doch jetzt brannten ihr die Tränen in den Augen. Das Bild jagte ihr plötzlich Angst ein, und sie fühlte, wie die lähmende Trauer, die sie sonst nur daheim bei ihrer Großmutter einholte, von ihr Besitz ergreifen wollte.
Verärgert strich sie sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, einmal etwas außerhalb der Reihe zu wagen. Die Vorstellung, als Automat mit Eiszapfen an der Seele zu enden, war ihr unerträglich.
Und deshalb würde sie jetzt nicht nach Neapel zum Flughafen und von dort nach Hause fahren, sondern einen kleinen Umweg über Pompei einlegen, um die Chance zu ergreifen, nach ihrer Mutter zu suchen.
Plus, neunundvierzig, dann die Vorwahl ohne null, am Schluss die sechsstellige Rufnummer. Karen presste ihr Handy gegen das Ohr und wartete darauf, dass zu Hause in Meerbusch ihre Großmutter sich aus ihrem Lieblingssessel stemmte, um zum Telefonapparat zu schlurfen.
»Ja?« Ihre Oma meldete sich stets nur mit Ja, seitdem sie einmal an einen dieser Telefonwüstlinge, wie sie sie nannte, geraten war.
»Oma? Ich bin’s, Karen«, rief sie viel zu laut.
»Is was passiert?«, kam prompt die Antwort.
»Nein, alles ist bestens, ich …«
»Und was is mit Kevin? Will er dich nun heiraten?«
»Nein, Oma, er – können wir darüber nicht zu Hause reden? Ich rufe vom Handy aus an. Du weißt doch, wie teuer die Gespräche sind.«
»Sag mir erst, was mit Kevin is. Ich merk doch, wenn mit dir was nicht stimmt.«
Karen presste seufzend den Kopf in die Hand. Warum war es mit ihrer Oma nicht möglich, wie mit einem ihrer Geschäftspartner zu kommunizieren? Kurze, knappe Antworten auf ebenso kurze, knappe Mitteilungen.
»Nichts ist mit Kevin! Kevin ist superglücklich, superleidenschaftlich und ein super A…« In letzter Sekunde erinnerte Karen sich daran, dass ihre Großmutter Kraftausdrücke auf den Tod nicht ausstehen konnte. Allmählich begann sie zu bereuen, sie überhaupt angerufen zu haben.
»Kevin ist ganz wunderbar«, flötete sie honigsüß, während sie gleichzeitig hoffte, dass ihre Großmutter nicht heraushörte, wie falsch es klang.
»Kevin und ich – wir hängen noch ein paar Tage Urlaub dran.«
Pause. Dann: »Bist du krank, Karen?«
»Ach, Oma!« Die Hupe brüllte, als Karen verärgert mit der Faust auf das Lenkrad schlug. »Du sagst doch selbst immer, dass ich nichts als meine Arbeit kenne. Nun will ich mir mal ein paar Tage freinehmen, und schon ist es dir auch nicht recht!«
»Unsinn, Kind. Es kam nur so – unerwartet. Wie lange bleibt ihr?«
»Nicht lange. Ein paar Tage. Vielleicht auch ’ne Woche. Bis ich alles erledigt habe …«
»Erledigt?«
»Ich meine, kannst du bitte meinen Chef erledigen … äh … du machst mich ganz nervös, Oma. Bitte richte meinem Chef aus, ich melde mich bei ihm. Vielleicht bin ich morgen Abend auch schon wieder zurück.«
»Na, dann war’s bestimmt besonders erholsam«, erwiderte Oma Käthe trocken.
Erschöpft gab Karen auf. »Oma, ich muss jetzt Schluss machen.«
»Tschüss, Kleines. Und Karen?« Karens Daumen schwebte bereits über der Unterbrechungstaste. »Sei vorsichtig.«
Hastig drückte Karen den Knopf. Ahnte ihre Großmutter, was sie vorhatte?
Unsinn!
Benommen starrte Karen durch die Windschutzscheibe auf die einsame Straße, die vor ihr lag. Weit hinten am Hang entdeckte sie eine kleine Gruppe Häuser, deren weißer Außenputz in der Sonne zu funkeln schien. Obwohl diese längst nicht mehr hoch am Himmel stand, flimmerte die Landschaft unter der frühsommerlichen Hitze. Gräser und Büsche schienen sich nach einem Regenschauer zu sehnen.
Seufzend bedauerte es Karen, dass sie in der Hektik ihrer Abreise vergessen hatte, Proviant und etwas zum Trinken einzupacken. Da sie bei ihrer Ankunft den Weg von Neapel nach Amalfi dank ihrer Kopfschmerzen praktisch verschlafen hatte, war ihr die Fahrt vom Flughafen wie ein Katzensprung erschienen.
Na ja, verdursten würde sie schon nicht. Pompei lag quasi auf der anderen Seite des Berges vor ihr. Sie legte den Gang ein, startete und fuhr langsam an. Weit war es nicht mehr. Sie würde sich dort für die Nacht ein Zimmer nehmen und morgen weitersehen.
Zwanzig Minuten später
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