Wer braucht denn schon Liebe
lenkte sie den Wagen in einem schmalen Waldstreifen erneut an den Straßenrand. Hier herrschte wenigstens Schatten. Mittlerweile klebte ihr die Zunge am Gaumen, und sie verfluchte sich selbst, weil sie das Wagnis dieses albtraumhaften Wochenendes überhaupt eingegangen war.
Ermüdet nach der langen Serpentinenfahrt, die sie durch die Hochebene Tramontoni hoch zum Pass Vàlico di Chiunzi gebracht hatte, stieß Karen die Autotür auf und nahm einen tiefen Atemzug frische Luft. Sehnsuchtsvoll reckte sie ihren Körper zum Himmel, um dann mit staksigen Beinen ein paar Schritte in den Wald hineinzugehen. Sie lachte fröhlich auf, als direkt über ihr in den Zweigen plötzlich ein Vogelpärchen aufgeregt zu schimpfen begann.
Die habe ich wahrscheinlich beim Schnäbeln gestört. Als Karen mit dem Oberkörper nach vorne kippte, um für eine Stretchingübung ihre Fußknöchel zu umfassen, spürte sie prompt einen Stich in der Herzgegend.
Ob Kevin auch gerade schnäbelte? Mit seiner leidenschaftlichen Italienerin?
Nicht, dass sie eifersüchtig war, wirklich nicht!
Aber ihr verletzter Stolz nagte gewaltig an ihr.
Wofür hatte sie ihr Diplom der Betriebsökonomie mit Auszeichnung bestanden? Wofür hatte sie sich mit Bravour selbst in New Yorks Hochburgen der Finanzwirtschaft behauptet und durchgesetzt? Weshalb schwang sie sich jeden Morgen noch vor sieben auf das Trimmrad, um die Fettpölsterchen zum Schmelzen zu bringen? Wofür? Damit Kevin sich Hals über Kopf in eine andere, vermutlich weit weniger perfekte Frau verliebte?
Himmel, das war ungerecht! Sie hatte es verdient, geliebt zu werden! Lieber hätte sie charmant seinen Heiratsantrag abgelehnt, als von ihm aufs Brutalste hintergangen, gedemütigt und verlassen zu werden!
Ja genau, das war es überhaupt! Warum hatte Kevin nicht wenigstens den Anstand besessen, nach dem Gesetz der Logik zu handeln? Erst hätte er ihr die Gelegenheit geben müssen, seinen Heiratsantrag abzulehnen, bevor er sich der nächsten Frau zuwandte. So verhielt man sich doch wohl unter zivilisierten Menschen. Bevor man sich neuen Verpflichtungen zuwandte, mussten alte gelöst werden.
Kevin, du Schwein!
Nachdem sie das einmal laut und deutlich in den Wald hinausposaunt hatte, fühlte sie sich schon wieder viel besser.
Wie friedlich es hier oben doch war. Keine Menschenseele weit und breit. Genau der richtige Ort, um zu entspannen. Leider gab es keine Toilette. Nur jede Menge Büsche und Bäume, die aber auch ihren Zweck als Sichtschutz erfüllten. Hinter einem Busch mit Dornen an den dünnen Zweigen ging Karen in Deckung.
Als sie wieder hervorkam, sah sie gerade noch, wie ihr Mietwagen mit Vollgas davonbrauste.
»He! Hilfe! Anhalten!« Wild gestikulierend machte Karen sich an die Verfolgung. Doch obwohl sie als Schülerin im Sprint immer die Schnellste bei den Bundesjugendspielen gewesen war, besaß sie jetzt nicht den Hauch einer Chance.
Der Wagen war futsch – und mit ihm alles, was ihr gehörte. Ihr kleiner Reisekoffer, ihr Fotoapparat, die Sonnenmilch, die Luigi ihr in Amalfi gekauft hatte …
Der Atem stockte Karen, als ihr einfiel, dass sich auch ihre Handtasche im Auto befand. Völlig sorglos hatte sie sie auf dem Beifahrersitz offen stehen gelassen. Ihr Portemonnaie, die Scheckkarten, ihr Personalausweis, ihr Flugticket.
»O nein! Nein, nein, nein!« Verzweifelt sank Karen auf die Knie und begann, mit den Fäusten auf den Waldboden einzutrommeln. Der Waldboden kassierte die Prügel, die Kevin und alle anderen Gangster dieser Welt verdienten. Wütend schluchzte Karen auf, als Piniennadeln sich in ihren Handballen bohrten.
»Womit habe ich das verdient?! Ist das mein Karma oder einfach nur verdammter Mist?! Ich verstehe das nicht!«, fluchte sie laut und zornig, als sie sich die Nadeln einzeln aus dem Fleisch zog. Ihr lagen noch wirklich schlimme Flüche und Schimpfwörter auf der Zunge, doch selbst in dieser mehr als bescheidenen Situation schluckte sie sie wieder hinunter. Sie war eben durch und durch das Produkt der strengen Erziehung ihrer Großmutter: »Wenn du sonst nichts hast, gute Manieren kann dir niemand nehmen, Kind.«
Zum Ausgleich erlaubte sich Karen in anderer Hinsicht völlige Hemmungslosigkeit. Wie ein biblisches Klageweib jammerte sie sich ihren Ärger, die Wut und auch die Enttäuschung über sich selbst laut von der Seele.
Seitdem sie denken konnte, klemmte sie sich ihre Handtasche beim Ausgehen fest unter den Arm. Bevor sie das Haus verließ, überprüfte
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