Wer braucht denn schon Liebe
eine schmale, schief in den Angeln hängende Holztür unter ihren Händen nachgab. Doch sie fing sich ab und lauschte in die Dunkelheit hinein.
Da! Hinten rechts in der Ecke! Raschelte da nicht etwas? Erneut zuckte ein Blitz. Sekundenlang erhellte er den Raum. Nichts als Berge duftendes Heu.
Endlich in Sicherheit.
Aufatmend ließ Karen sich der Länge nach ins Heu fallen. Wann war sie das letzte Mal dermaßen müde gewesen? Die Augen fielen ihr von ganz alleine zu, und sie sehnte sich danach einzuschlafen. Aber die Vernunft befahl ihr, sich zusammenzureißen, sich aufzurichten, den Reißverschluss zu öffnen und aus dem nassen Kleid zu schlüpfen. Als sie schließlich nur noch in BH und Höschen dahockte, bezweifelte sie allerdings, ob dieser Zustand nun wirklich so viel besser war, als das feuchte Kleid noch am Leib zu tragen.
Hier im Heustadel pfiff der Wind so stark durch die Ritzen, dass sie schon nach wenigen Sekunden wieder zu zittern begann. Dennoch hängte sie das Kleid zunächst sehr sorgfältig über einem Holzpfosten zum Trocknen auf, bevor sie es sich in ihrem Heubett bequem machte.
Wenn man sich erst einmal bis zum Hals eingebuddelt hat, merkt man gar nicht mehr, dass man friert.
Hochgradig romantisch.
Unter anderen Umständen, vielleicht.
»Gute Nacht, liebe Karen.« Die Augen fielen ihr zu.
»Buona notte«, kam leise das Echo zurück.
»Witzig«, kicherte Karen im Halbschlaf.
Witzig?! Karen fühlte, wie ihr Körper sich versteifte, während ihr Herz sich vor Schreck fast überschlug.
Kein Echo der Welt wiederholt einen deutschen Satz auf Italienisch. Was nichts anderes bedeuten konnte als: Sie war nicht allein!
»Wer sind Sie?«, flüsterte sie ängstlich.
Keine Antwort.
Ganz vorsichtig richtete sie sich auf, bis sie sich auf die Ellenbogen stützen konnte. Mit zusammengekniffenen Augen strengte sie sich an, um in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Vergeblich.
»Hallo?!«, rief sie noch einmal. Dabei streckte sie die rechte Hand aus, um an ihr Kleid zu gelangen.
»Parla italiano?«, erklang dicht an ihrem linken Ohr eine männliche Stimme.
Karen wollte laut aufschreien vor Schreck.
Doch schon beim ersten Ton, den sie ausstieß, presste ihr der Fremde seine Hand fest auf den Mund. Karen spürte, wie ihr das Blut durch die Adern raste und ihr Puls so stark hämmerte, dass es ihr in den Ohren dröhnte.
»Scusi, Signora, nicht schreien.«
Die Gedanken überschlugen sich in Karens Kopf. Welcher italienische Ehrenmann, der seine Familie liebte, trieb sich zu dieser späten Stunde noch in einem Heustadel herum?
Richtig.
Folglich musste es sich bei dem Mann hinter ihr um ein weniger ehrenwertes Exemplar handeln. War er ein Landstreicher, vielleicht? Oder aber ein Ganove, um diesen altmodischen Ausdruck zu gebrauchen?
Die Situation verwirrte Karen. Zumal der Mann hinter ihr den sinnlichen Duft von Moschus verströmte.
Ich liebe Moschus.
Und ein braver italienischer Mann liebt seine Mutter, seine Bambini und seine Casa.
Widersinnigerweise fiel Karen in diesem Moment auch noch Metzgermeister Brodes ein, der am Montag vergeblich auf ihren Anruf warten würde. Ebenso wie ihr Chef auf ihr Erscheinen. Völlig zu Recht würden beide Karen als unzuverlässig und verantwortungslos einstufen. Und Kesselbaum junior würde toben. Normalerweise musste jeder Urlaub, der länger als vier Tage dauerte, ein Vierteljahr vorher angemeldet werden.
Sie, die sonst so viel Wert auf Formalien und korrektes Verhalten legte, hatte diese Regel gebrochen.
Und wofür?!
Um selig in den Armen eines nach Moschus duftenden Gangsters zu träumen.
Dieser schockierende Gedanke brachte Karen umgehend wieder zu Verstand. Instinktiv rückte sie von dem Mann ab, der zu ihrer Erleichterung seinen Griff lockerte, ohne allerdings die Hand von ihrem Mund zu nehmen.
»Zitta!«, flüsterte er mit rauer Stimme, die beschwörend und beruhigend zugleich auf sie wirkte.
Karens Herz verkrampfte sich ängstlich, doch merkwürdigerweise fühlte sie sich nicht ernsthaft von ihm bedroht. Zumindest im Augenblick nicht. Also nickte sie als Zeichen dafür, dass sie ihn verstanden hatte und nichts unternehmen würde, um ihn zu verärgern.
Wenn er sich in Sicherheit wiegt, gelingt es mir vielleicht zu fliehen.
Hier draußen, so weit entfernt vom nächsten Ort, machte es ohnehin keinen Sinn, laut zu schreien. Wer sollte sie hören? Doch Auge in Auge mit ihrem Widersacher gab es vielleicht eine kleine Chance, heil aus der Sache
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