Wer einmal lügt
ausgestreckt auf die Straße. Vielleicht verlor er kurz das Bewusstsein – er war sich nicht sicher, spürte nur, wie plötzlich etwas an seiner rechten Schulter zog. Einen Moment lang blieb er einfach bewegungslos liegen, konnte oder wollte sich nicht wehren. In seinem Kopf drehte sich alles vor Schmerz. Der primitive Teil seines Gehirns, in dem die Ur-Instinkte beheimatet waren, hatte in den Überlebensmodus geschaltet. Meide weitere Schmerzen, sagte er. Roll dich einfach zusammen und schütze die lebenswichtigen Organe.
Durch ein weiteres, kräftiges Ziehen wäre ihm fast der Arm ausgekugelt worden. Dann ließ es nach und wanderte die Schulter und seinen Arm hinab. Bei der folgenden Erkenntnis riss Ray die Augen auf.
Da klaute jemand seine Kamera.
Die Kamera war eine klassische Leica mit einem kürzlich nachgerüsteten digitalen Übertragungs-Feature. Er spürte, wie sein Arm angehoben und der Riemen hinuntergezogen wurde. In höchstens einer Sekunde wäre die Kamera weg.
Ray besaß nicht viel. Die Kamera war das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutete. Natürlich war sie zum einen das Werkzeug, das er zu seinem Broterwerb brauchte – außerdem aber war sie die einzige Verbindung zum alten Ray, zu dem Leben, das er vor dem Blut geführt hatte. Er war nicht bereit, das kampflos aufzugeben.
Zu spät.
Der Riemen war nicht mehr an seinem Arm. Er überlegte, ob er noch eine Gelegenheit bekäme, sich zur Wehr zu setzen, ob der Räuber versuchen würde, an die vierzehn Dollar in seinem Portemonnaie heranzukommen, und Ray so eine zweite Chance geben würde. Er brannte darauf, das herauszufinden.
Mit benebeltem Kopf und weichen Knien schrie Ray: »Nein!«, versuchte aufzuspringen und sich auf den Angreifer zu stürzen. Er erwischte etwas, wahrscheinlich die Beine, umschlang sie mit den Armen, und obwohl er sie nicht richtig in den Griff bekam, reichte der Aufprall.
Der Angreifer stürzte. Auch Ray landete wieder auf dem Bauch. Er hörte einen lauten Knall und hoffte inständig, dass er nicht gerade seine eigene Kamera zertrümmert hatte. Er versuchte, die Augen zu öffnen, hatte es nach kurzem Blinzeln auch bis zu zwei schmalen Schlitzen geschafft, durch die er die Kamera etwa ein oder zwei Meter vor sich sah. Er fing an darauf zuzukrabbeln, sah dann aber zwei Dinge, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Das erste war ein Baseballschläger auf dem Asphalt.
Das zweite – und wichtigere – war die behandschuhte Hand, die danach griff.
Rays Versuch, nach oben zu blicken, scheiterte. Die Erinnerung an ein Sommerlager blitzte auf. Sein Vater hatte es geleitet, als Ray noch klein war. Dad – die Jugendlichen hatten ihn Uncle Barry genannt – hatte gerne Staffelläufe veranstaltet, bei denen man sich einen Basketball direkt über den Kopf hielt, ihn ansah und sich so schnell wie möglich drehte. Dann musste man den Ball über das ganze Feld dribbeln und auf der anderen Seite in den Korb werfen. Das Problem bestand darin, dass einem vom Drehen so schwindlig war, dass man in eine Richtung fiel, der Ball aber in die andere rollte. So fühlte Ray sich jetzt – als ob er nach links stürzte, während der Rest der Welt nach rechts schwankte.
Der Kameradieb nahm den Baseballschläger und kam auf ihn zu.
»Hilfe!«, schrie Ray.
Es kam niemand.
Panik ergriff ihn – gefolgt von einer instinktiven Überlebensreaktion. Flucht. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber noch nicht. Ray war schon so ein schwer mitgenommenes Häufchen Elend. Noch ein Schlag, ein harter Treffer mit dem Baseballschläger …
»Hilfe!«
Der Angreifer kam zwei weitere Schritte auf ihn zu. Ray hatte keine Wahl. Auf allen vieren krabbelte er davon wie ein verwundeter Krebs. Prima, so war er bestimmt schnell genug, um dem verdammten Schläger zu entkommen. Der Arsch mit dem Baseballschläger war praktisch über ihm. Er hatte keine Chance.
Ray stieß mit der Schulter gegen etwas. Sein Wagen.
Er sah, wie der Schläger über seinem Kopf angehoben wurde. Noch ein, vielleicht zwei Sekunden, dann würde man ihm den Schädel einschlagen. Er hatte nur eine Chance – also nutzte er sie.
Ray drehte den Kopf zur Seite, legte die Wange auf den Asphalt, machte sich so flach wie möglich und glitt unter den Wagen. »Hilfe!«, rief er wieder. Dann, zum Angreifer: »Behalten Sie die Kamera und hauen Sie ab!«
Und genau das tat der. Ray hörte, wie sich die Schritte auf der Straße entfernten. Er versuchte, unter dem Auto hervorzukriechen.
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