Wer einmal lügt
Sein Kopf rebellierte, aber er schaffte es. Dann setzte er sich auf den Gehweg und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Beifahrertür. So blieb er eine Weile sitzen. Wie lange, konnte er nicht sagen. Vielleicht war er zwischendurch sogar wieder kurz bewusstlos.
Als es ihm wieder etwas besser ging, verfluchte Ray die Welt, stand auf, stieg in den Wagen und ließ ihn an.
Eigenartig, dachte er. Das Jubiläum des vielen Bluts – und fast wäre genau da auch der Großteil seines eigenen vergossen worden. Ein Zufall, der ihm beinahe ein Lächeln entlockt hätte. Doch als er losfuhr, verschwand jeder Anflug eines Lächelns aus seinem Gesicht.
Zufall? Ja, es war nur Zufall. Und nicht einmal ein besonders großer, wenn er es recht bedachte. Die blutige Nacht war vor siebzehn Jahren gewesen – es war kein runder Geburtstag oder so etwas. Außerdem war Ray schon öfter ausgeraubt worden. Erst letztes Jahr hatte man ihn ausgenommen, nachdem er um zwei Uhr morgens betrunken aus einem Striptease-Club gekommen war. Die Idioten hatten sein Portemonnaie geklaut und auf diese Weise ganze sieben Dollar und eine Kundenkarte vom CVS -Drogeriemarkt ergattert.
Trotzdem.
Er fand einen Parkplatz auf der Straße vor dem Reihenhaus, das Ray sein Zuhause nannte. Er lebte in der Mietwohnung im Keller. Das Haus selbst gehörte Amir Baloch, einem pakistanischen Immigranten, der mit seiner Frau und vier ziemlich lauten Kindern oben wohnte.
Jetzt nimm doch mal eine Sekunde an – oder auch nur einen Sekundenbruchteil –, dass es kein Zufall war.
Ray stieg aus. Ihm dröhnte immer noch der Kopf. Morgen würde es noch schlimmer sein. Er ging an den Mülltonnen vorbei, die Treppe hinunter zur Kellertür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er zermarterte sein schmerzendes Hirn und versuchte, eine Verbindung herzustellen – eine noch so obskure, vage oder gar abwegige Verbindung – zwischen der tragischen Nacht vor siebzehn Jahren und dem heutigen Überfall.
Nichts.
Das heute war einfach ein ganz banaler Raubüberfall. Man zog einem Typen einen Baseballschläger über den Schädel, schnappte sich seine Kamera und verschwand. Außer, na ja, – würde man ihm nicht auch noch das Portemonnaie klauen? Es sei denn, es war derselbe Täter, der Ray damals vor dem Striplokal ausgenommen hatte und der wusste, dass da nur sieben Dollar drin waren? Scheiße, vielleicht war ja auch das der große Zufall. Vergiss das Timing und das Jubiläum: Es handelte sich einfach um denselben Täter, der Ray vor einem Jahr ausgenommen hatte.
Oje, was für ein Unsinn. Wo zum Teufel waren die Schmerztabletten?
Er schaltete den Fernseher ein und ging ins Bad. Als er den Medizinschrank öffnete, fielen zig Fläschchen und Packungen ins Waschbecken. Er wühlte in dem Haufen herum, bis er die Flasche mit dem Vicodin fand. Er hoffte zumindest, dass es Vicodin war. Er hatte die Tabletten auf dem Schwarzmarkt von jemandem gekauft, der behauptet hatte, sie aus Kanada in die USA geschmuggelt zu haben. Nicht auszuschließen, dass es Vitamintabletten für Kinder waren.
In den Lokalnachrichten wurde ein brennendes Haus aus der Gegend gezeigt, dann befragte man einige Anwohner, was sie über das Feuer dachten, weil das ja immer so wunderbare neue Erkenntnisse brachte. Rays Handy klingelte. Er sah Festers Nummer im Display.
»Was gibt’s?«, fragte Ray und setzte sich auf die Couch.
»Du klingst ja schrecklich.«
»Ich bin auf dem Weg von Iras Bar-Mizwa zum Wagen überfallen worden.«
»Ehrlich?«
»Yep. Hab einen Baseballschläger über den Kopf gekriegt.«
»Haben sie was geklaut?«
»Meine Kamera.«
»Was? Dann sind die Fotos von heute weg?«
»Nein, nein, keine Sorge«, sagte Ray. »Eigentlich ist alles okay.«
»Du weißt schon, innerlich sterbe ich fast vor Sorge. Ich frag nur nach den Fotos, um von meiner Besorgnis abzulenken.«
»Die Fotos hab ich«, sagte Ray.
»Wieso?«
Sein Kopf schmerzte zu sehr, um das zu erklären, außerdem schickte ihn das Vicodin langsam ins Traumland. »Mach dir wegen der Fotos keine Sorgen. Die sind in Sicherheit.«
Vor ein paar Jahren, als Ray sich kurzfristig als »echter« Paparazzo versucht hatte, waren ihm ein paar wunderbar kompromittierende Bilder eines prominenten schwulen Schauspielers bei einem Seitensprung mit – huch! – einer Frau gelungen. Der Leibwächter des Schauspielers hatte Ray daraufhin gewaltsam die Kamera abgenommen und die Speicherkarte zerstört. Kurz darauf hatte Ray einen Wireless-Transmitter in
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