Wer hat Angst vor Beowulf?
woher auch? Oder vielleicht doch?« Er runzelte die Stirn. »Ach, zur Hölle damit! Wenn es greifbar wäre, hätten Sie es nicht auslassen können.« Seine Stirn glättete sich, und er blickte über die Schulter zu den zankenden Kriegern hinüber. »Bei den Wikingervölkern«, fuhr er wehmütig fort, »gilt der Musterheld als tapfer, treu, fröhlich und wortkarg. Drei von vieren dieser Eigenschaften sind aber auch nicht schlecht, wie ich meine. Wer sind Sie eigentlich, Hildy Frederikstochter?«
»Frederik sen«, korrigierte Hildy ihn automatisch, »Oh, das habe ich vergessen. Das mit dem angehängten -sohn und -tochter haben wir schon vor Jahrhunderten abgeschafft.«
»Das ist auch ganz richtig so. Aber erzählen Sie weiter.«
»Ich bin eine Archäologin«, fuhr Hildy fort, »und grabe die Vergangenheit wieder aus.«
Der König hob eine Augenbraue. »Sie meinen, Sie wärmen alte Streitigkeiten wieder auf und halten alten Groll am Leben? Doch bestimmt nicht, oder?«
»Nein, nein. Ich grabe altertümliche Dinge aus, die in der Erde vergraben sind. Dinge, die Menschen gehörten, die vor Hunderten von Jahren gelebt haben …« Während sie das sagte, fühlte sie sich allmählich immer unwohler in ihrer Haut; sie hatte die Spange ganz vergessen!
»So etwas machen Sie wirklich?« fragte der König ungläubig. »Bei uns nannte man das Grabschändung.«
Hildy zappelte nervös hin und her, und dabei rutschte die Spange aus ihrer Tasche und fiel zu Boden.
»Ach, jetzt verstehe ich. Archäologin also. Das muß ich mir merken.«
Hildy hob die Spange auf und versuchte dabei vergeblich, dem Blick des Königs auszuweichen. »Ich wollte sie wieder an ihren Platz legen, ehrlich«, stammelte sie. »Deshalb bin ich zurückgekommen. Es tut mir wirklich leid.«
Der König seufzte und griff nach der Spange, die wie von selbst aus ihrer Hand herauszuhüpfen schien, als sei sie froh, Hildy endlich zu verlassen.
»Ich hab mich schon gefragt, wo die wohl geblieben ist«, reagierte der König betont kühl. »Ich hab ’ne Menge Probleme deswegen gehabt … aber egal.«
»Was ist das für eine Spange?« fragte Hildy verlegen, doch der König lächelte nur ziemlich verächtlich und steckte sie sich an seinen Umhang. Hildy blickte beiseite. Sie fühlte sich furchtbar elend und kam sich wie ein Kind vor, das etwas sehr Schlimmes angestellt hatte und dem verziehen worden war.
»Erzählen Sie weiter«, forderte der König sie auf.
Hildy gehorchte. »Ich bin hierhergekommen, um den Grabhügel zu erforschen. Die Leute, die die Pipeline verlegen, sind …«
»Ich nehme an, Sie wissen, was eine Pipeline ist, oder?« unterbrach sie der König.
»Das ist eine Art Röhre. Wirklich. Die verläuft unter dem Meer entlang und …«
Der König runzelte erneut die Stirn. »Verzeihung, ich hätte Sie nicht unterbrechen sollen. Ein paar Männer haben also eine Röhre gebaut und den Grabhügel aufgebrochen. War das ein Zufall, oder haben die das mit Absicht getan?«
»Oh, das war reiner Zufall. Dann haben sie uns Archäologen Bescheid gegeben, weil es sich bei dem Fund um eine altertümliche Grabstätte hätte handeln können. Und ich bin dann hierhergekommen und …«
»Ja.« Der König lächelte wieder, diesmal ganz freundlich. »Und Sie sind sich wirklich ganz sicher, daß es nur Zufall war? Das ist ziemlich wichtig.«
»Absolut sicher.«
Der König lachte plötzlich los, laut und beinah nervös, als wäre ihm ein großer Stein vom Herzen gefallen. »Das ist gut«, sagte er schließlich. »Eine Pipeline ist also eine Art Röhre, richtig? Aber wofür?«
Folglich erzählte ihm Hildy alles über Öl, Erdgas und Elektrizität, sogar über Kernkraft und Three Mile Island. Als sie damit fertig war, hatten auch die Krieger ihren Streit beigelegt und kamen nun herüber, um ihr zuzuhören. Aber Hildy nahm davon keine Notiz – schließlich ruhte der Blick des Königs auf ihr, und sie war fast stolz darauf, diejenige zu sein, die erwählt worden war, ihm das alles zu erzählen, so wie ein Kind, das vor seinem geduldigen Onkel mit seinem teuren neuen Spielzeug prahlt. Als sie das Thema Energieversorgung abgeschlossen hatte, fuhr sie mit den technologischen Errungenschaften fort: Autos, Computer, Telefone und Fernsehen. Während sie redete, beschlich sie immer mehr das Gefühl, daß der König völlig abwegig reagierte, denn er wirkte von all dem nicht im geringsten überrascht. Tatsächlich schien er sogar alles, was sie ihm erzählte, zu verstehen
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