Wer hat Angst vor Jasper Jones?
gepflanzt werden müssen. Er hat seinen Garten mit der Präzision einer Symphonie arrangiert. Das ganze Jahr über leuchten dort Farben, selbst wenn es Winter ist in Corrigan. Im Frühjahr jedoch explodieren sie wie eine gefrorene Feuerwerksrakete. Und immer ist An zur Stelle und betreut und kontrolliert die Blütenpracht wie ein Schaffner.
Die meisten Leute drehen auf ihrem abendlichen Spaziergang eine Runde um Ans Farbenschau. Sie zeigen sich gegenseitig die Glyzinien, den wilden Mohn, den Jasmin oder historische Rosensorten. Sie rätseln darüber, was die exotischeren Pflanzen sein mögen, und bewundern die Auswahl und ihren Duft.
Natürlich habe ich nur Augen für die ständig wechselnde Schar der Insekten, die über den aufgeplatzten Knospen schwebt, und bleibe, so gut es geht, auf Abstand. Ich habe tödliche Angst vor ihnen. Bienen. Wespen. Hornissen. Vor allem, was fliegt, kriecht, springt oder sticht. Meine Mutter amüsiert sich gern über meine Phobie, aber Jeffrey ist der Schlimmste von allen. Einer seiner Lieblingsscherze besteht darin, mir zu sagen, ich hätte eine Biene auf dem Rücken oder eine Rotrückenspinne auf der Schulter. Er erstarrt mit aufgerissenen Augen und sagt:
Beweg dich nicht
, als wäre ich im Begriff, auf eine Landmine zu treten. Jedes Mal falle ich darauf herein.
Vielleicht gelingt es mir irgendwann, An Lus wunderschönen Garten aus der Nähe zu bewundern, ohne dass mir das schreckliche Summen von Millionen mit Gift bewaffneter Angreifer eine Gänsehaut verursacht. Doch im Moment ist der schönste Aussichtspunkt für mich der Ort, an dem ich stehe: direkt vor meinem Elternhaus.
Jeffrey zieht die Sporttasche auf seinem Rücken ein wenig höher. Ich biege auf unseren Rasen ab.
«Ich würde dich ja zum Abendessen einladen, aber ich kann dich leider nicht ausstehen», sage ich.
«Pfff! Ich lecke mir lieber meinen eigenen Hintern ab, als mit Leuten von deiner Sorte zu essen.»
«Quatsch», sage ich. «Du leckst dir lieber den Hintern ab, weil es dir schmeckt.»
Jeffrey lacht. «Besser als das Essen deiner Mutter!»
«Touché», lenke ich lachend ein.
Jeffrey wendet sich zum Gehen, dreht sich aber noch einmal um und grinst.
«He, Chuck?»
«Was?»
«Was ist das Schwierigste daran, Batman zu mögen?»
Ich schließe die Augen und seufze.
«Keine Ahnung. Was?»
«Seinen Eltern zu sagen, dass man schwul ist!»
Natürlich kommt er fast um vor Lachen.
«Du bist ein Idiot. Das ergibt noch nicht mal Sinn.»
«Nein, du bist ein Idiot. Das ist saukomisch.»
«Ich lecke mir jedenfalls nicht den eigenen Arsch.»
«Wenn du meinen Arsch hättest, würdest du es tun.» Er nimmt das Schattenboxen wieder auf, als er davongeht. «Ich bin so schön! So
schön
!»
«Mach’s gut, Muhammad.»
«Sie machen aahrrr, Chaarrrlie! Sie machen aahrrr!»
Jeffrey hüpft nach Hause. Als er ankommt, richtet sich An abrupt im Garten auf, schwenkt die Gartenschere in seine Richtung und herrscht ihn streng und wütend an. Jeffrey rührt sich nicht vom Fleck. Anscheinend gibt es Ärger. Ich sehe, wie er den Kopf senkt und ins Haus schleicht.
Ich tue dasselbe.
Beim Abendessen versuche ich meinen Eltern irgendwelche Neuigkeiten zu entlocken, doch sie haben nichts zu bieten. Anschließend gehe ich mit meinem Kaffee schnurstracks zu meiner Schlafveranda. Ich bin nicht in der Stimmung für Unterhaltungen oder Fernsehen. Dad will wissen, ob irgendetwas nicht stimmt, doch ich zucke lediglich die Achseln und sage, dass ich lesen will.
Ich stelle die Tasse ab und öffne die Jalousie. Dann spähe ich eine Weile nach draußen in der Hoffnung, Jasper Jones könnte hinten in unserem Garten auf mich warten. Doch er ist nicht da.
Ich versuche zu lesen, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Also lege ich
Knallkopf Wilson
zur Seite. Mit einem schmutzigen T-Shirt wische ich mir den Schweiß vom Gesicht. Ich denke an das, was sich letzte Nacht um die gleiche Zeit abgespielt hat, und habe das Gefühl, eine ganze Welt läge dazwischen. Es ist, als hätte ich bisher in einer anderen Dimension gelebt, in einem anderen Körper.
Ruhelos ziehe ich meinen alten braunen Koffer unter dem Bett hervor, schließe ihn auf und hole meinen gelben Schreibblock heraus. Erwartungsvoll klemme ich mich hinter meinen Schreibtisch. Bereit, die schwarze Seide zu spinnen. Ich brauche es. Es brennt mir auf den Nägeln. Ich muss etwas davon herausfließen lassen, muss jemandem ein paar meiner Geheimnisse anvertrauen. Doch mein Stift drängt
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