Wer ist der andere, Alissa
bescheidene Haus gekauft hatten, in dem sie heute noch wohnte, war sie entschlossen gewesen, diesen Traum zu verwirklichen. Alissa lächelte wehmütig. Tom hatte sie deswegen immer ein wenig aufgezogen. Er hatte das "den Drang, ein Nest zu bauen" genannt.
Sie blickte sich im Zimmer um. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, das Haus so heimelig und gemütlich wie möglich zu machen, hatte es praktisch mit einem Minibudget eingerichtet, hatte vieles selbst getan. In den ersten zehn Jahren ihrer Ehe war Tom immer zu beschäftigt mit seinem Studium gewesen, um ihr zu helfen, und danach hatte seine Zahnarztpraxis seine ganze Zeit in Anspruch genommen. Jedes Möbelstück in diesem Haus hatte sie nach Komfort und Behaglichkeit wie auch nach Farbe und Stil ausgewählt. Und das Resultat war ein bezauberndes und gemütliches Heim, in dem die sanften Schattierungen von Malvenfarbe, Fuchsienrot und Grünblau überwogen. Es gab zwar keine Kinder, die das Haus mit ihrem Lachen und Plappern erfüllt hätten, aber sie und Tom waren hier glücklich gewesen.
Das Telefon fing an zu läuten. Alissa blickte hin und wieder weg. Wahrscheinlich war es Margo oder Jolene oder eine ihrer anderen Freundinnen, die sie nach dem letzten Abend ausquetschen wollten. Sie war allerdings nicht in der Stimmung, darüber zu reden. Den ganzen Nachmittag ging es so weiter: Das Telefon klingelte, hörte wieder auf und klingelte erneut. Aber Alissa nahm nicht ab. Der Gedanke daran, am nächsten Morgen in das Büro zurückzukehren, machte sie ganz nervös. Ihre Kolleginnen würden sie unbarmherzig hänseln.
Der Kuss auf der Tanzfläche würde auf Monate hinaus das Thema Nummer eins in der Firma sein. Alissa erschauderte. Sie war von Natur aus zurückhaltend, und das Wissen darum, dass sie Zielscheibe des allgemeinen Spottes sein würde, machte sie ganz krank. Am schlimmsten war jedoch der Gedanke, dass sie Dirk wieder gegenübertreten müsste.
Die Türklingel schlug an, und Alissa fuhr heftig zusammen. Mit einem Seufzer erhob sie sich aus dem Sessel und ging widerwillig zur Tür, die sie öffnete, ohne nachzudenken. Es versetzte ihr einen Schock, als sie in Dirks Gesicht aufblickte. Niemals hätte sie erwartet, ihn vor ihrer Türschwelle stehen zu sehen. Das war nicht fair von ihm. Warum hatte er nicht bis morgen warten können? Bis dahin hätte sie ihr inneres Gleichgewicht wieder gefunden und wäre besser darauf vorbereitet gewesen, sich mit ihm auseinander zu setzen. Natürlich war es typisch für Dirk Matheson, sich den Gegenspieler in dessen ungünstigstem Augenblick vorzunehmen.
Und diesmal war es ihm zweifellos gelungen. Alissa hatte nicht einen einzigen Tupfer Make-up aufgelegt. Sie war nicht einmal angemessen angezogen. Im Büro trug sie das Haar ordentlich hochgesteckt. Jetzt hing es ihr lose um die Schultern. Nach dem Duschen hatte sie sich ein bequemes, ausgebeultes Sweatshirt mit passender Hose übergezogen. Darunter trug sie nicht einmal einen BH. Überraschung flackerte in Dirks Augen auf, als er sie von Kopf bis Fuß musterte - von den zerzausten Haaren, durch die sie den ganzen Tag über nervös mit den Fingern gefahren war, über ihr Gesicht mit der klaren, leicht geröteten Haut bis hinunter zu den grauen Socken und den Hausschuhen, die eigentlich nur bequem aussahen. Als sein Blick sich dann auf einen Punkt konzentrierte - die vollen Brüsten, die sich unter ihrem Sweatshirt deutlich abzeichneten -, musste Alissa den Drang bekämpfen, die Arme schützend darüber zu kreuzen. "Was tun Sie hier?" wollte sie wissen. "Das hört sich aber nicht sehr gastfreundlich an."
„Ich habe auch nicht die Absicht, gastfreundlich zu sein. Weshalb sind Sie hier?"
"Lassen Sie mich herein", verlangte Dirk. Alissa umfasste die Tür nur noch fester und rührte sich nicht. Er seufzte. "Kommen Sie. Sie wissen doch, dass wir miteinander reden müssen. Möchten Sie es lieber hier im Privaten oder im Büro tun?"
Alissa zögerte. Schließlich trat sie einen Schritt zurück und hielt ihm die Tür auf. Aber ihr Gesichtsausdruck blieb verschlossen. Dirk ging an ihr vorbei und betrat die Eingangsdiele. Es war ein düsterer, bewölkter Tag, und die Temperatur lag um den Gefrierpunkt. Ein eiskalter Luftzug strömte von draußen herein. Nachdem er seinen schaffellgefütterten Mantel abgelegt hatte, hängte er ihn auf den Kupferhaken des antiken Garderobenständers. Alissa schaute Dirk das erste Mal richtig an, und sie fand, dass sie es lieber hätte unterlassen
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