Wer ist Martha? (German Edition)
Punkt zu bringen. Sehr beliebt in den Sechzigern: Pimm’s Cocktail, Screwdriver, Mojito, Milk Punch, Wodka wurde neu entdeckt. Eine eigene Hausbar zu haben kam auch in dieser Zeit in Mode.«
»Ich erinnere mich«, krächzt Herr Witzturn, »an die steifen Cocktailempfänge, wo ich mir die Beine in den Bauch stand und gewissenhaft eingecremte Hausfrauenhände küsste. Hungrig und benebelt biss ich in ihre Wurstfinger und zerkratzte mir den Mund an ihren Edelsteinringen. Zu essen gab es nichts, dafür eine Menge Cocktails, vom Hausherrn selbst gemixt. So haben wir damals die Grundlage für die eigeneKonservierung geschaffen, nicht wahr Herr, äh ...« Lewadski lächelt Herrn Witzturn durch geschlossene Augen an.
»Ein Partylöwe war ich nie, Herr, äh ...«
»Ich schlage vor, wir trinken einen Cocktail aus unserer Jugend. Meister!«, ruft Herr Witzturn mit schwacher Stimme, »was hat man im Krieg getrunken?«
»Im Krieg hatte man keine Zeit zum kultivierten Trinken«, mischt sich Lewadski ein.
»Dann trinken wir etwas aus der Zeit der Sechziger.« Cuba Libre kann der Barmann empfehlen. Limette, weißer Rum, Cola und karibische Lebenslust.
»Ich passe«, sagt Herr Witzturn, einen geknickten Strohhalm zwischen den Fingern drehend, »für mich klingt Cuba Libre nach einer respektlosen Verniedlichung revolutionärer Werte.«
»Aber lieber Herr Witzturn, die Zeit der Revolutionen ist doch vorbei. Für uns jedenfalls.«
»Da irren Sie sich schon wieder, lieber Herr Lewadski. Niemand darf seinen Beitrag zur Verbesserung oder zum Untergang der Welt unterschätzen, auch wir nicht. Wir sind ...«, Herr Witzturn kratzt sich an der Schläfe, als könnten so neue Ideen herausrieseln, »wir sind ohne Zweifel auf dem Gipfel einer neuen Revolution.«
»Seltsam«, Lewadski zuckt mit den Schultern, »von dieser Revolution merke ich nichts.«
»Kein Wunder«, lacht Herr Witzturn heiser, »es ist ja eine schleichende Revolution, eine, die das Volk tatsächlich braucht.«
»Welches Volk?«
»In erster Linie unser abendländisches Völkchen. Oh«, Herr Witzturn spitzt genießerisch den Mund, »ein romantisches Zeitalter ist im Kommen, die Zeit der Neo-Neoromantik, eineEpoche, die die Aufklärung und die peinlichen Turbulenzen des letzten Jahrhunderts wie ein Bündel getrockneter Waldpilze erscheinen lassen wird.«
»Phantastisch«, Lewadski faltet seine Hände wie zum Tischgebet.
»Die Revolution, sie schleicht voran«, fügt Herr Witzturn feierlich hinzu, »für sie werden wir uns warm anziehen müssen.«
»Gibt es noch einen anderen Cocktail mit karibischer Lebenslust?«, fragt Lewadski. Piña Colada fällt dem Barmann ein. Saft einer reifen Ananas, Eis, Zucker, Kokosnusscreme Limettensaft und Bacardi Rum.
»Etwas für Frauen und Kinder«, sagt Lewadski, »und für echte Männer.«
»Das nehmen wir«, sagt Herr Witzturn, »Piña Colada tröstet jeden und wirkt paradoxerweise auf fröhliche Gemüter deprimierend. In den Sechzigern war Piña Colada der Zaubertrank für junge Witwen.« Die Nase von Herrn Witzturn dreht sich wie ein Holzpfeil im Wind in Richtung der Russin. »Kaum waren sie mit ihrer Trauer über dem Berg, kaum begann sich in ihren Leibern wieder die Lebensfreude zu regen, da sprangen sie nach übermäßigem Genuss dieses Getränks aus heiterem Himmel von Eisenbahnbrücken. Manche rannten aus ihren Stammkneipen zielstrebig direkt zum Fluss, ohne die Rechnung bezahlt zu haben.«
»Ich verstehe wenig von Frauen«, flüstert Lewadski Herrn Witzturn zu, der sich sofort wieder zur weißhäutigen Ausländerin umdreht.
»So wichtig sind die Cocktails für den Roman auch nicht.« Die Worte der Russin klingen gedämpft, als würde sie sich ein mehrfach gefaltetes Tuch vor den Mund halten. »Viel wichtiger sind die Gespräche an der Bar, die mein Held zu führenglaubt. Die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr hoch, fürchte ich, dass es niemanden gibt, der sich mit diesem hochbetagten Mann unterhält. Ich persönlich wünschte, mein Held wäre nicht allein. Aber es wäre zu einfach«, seufzt sie in den Rücken des Barmanns, der sich zu einer Balvenie-Flasche emporstreckt. »Zu einfach und zu trist.«
»Zu trist, wenn er einen Trinkfreund hätte?« Der Barmann dreht sich zu ihr um, die Balvenie-Flasche erweist sich als halbleere Flasche Port.
»Jeder stirbt für sich allein«, lächelt die Russin und leckt am gezuckerten Rand ihrer Cocktailschale. Ein Riss, lang und schlank wie eine Glanzwurzel, schlängelt sich das
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